Das Leben ist groß
von Dogmatismus und Deodorant. Die meisten anderen Frauen waren für die Funktionäre vorgesehen – sie waren aus Elisabetas Branche, makellos gekleidet, überschminkt, mit enganliegenden Kleidern und opernreifen Lachsalven im Koloratursopran. Für Alexander waren sie tabu, und er hielt sich von ihnenfern, wenn er nicht gerade an ihnen vorbeimusste, um sein Glas aufzufüllen. Eines Abends jedoch kam er mit einer Frau ins Gespräch, die er nicht recht zuordnen konnte – sie war zu jung für eine Alibi-Parteifrau und zu unattraktiv, um eine der Hostessen zu sein. Ihr Gesicht war gerötet und ihre Lippen prall, eher grotesk als erotisch. Sie trank Rotwein, der ihren Mund grellrot verfärbte.
»Sind Sie nicht Alexander Besetow?«, fragte sie. »Das Schachwunderkind?«
»Ein Wunderkind?« Alexander war schon ziemlich betrunken, spürte den sanften Auftrieb, mit einem Ölfilm der Verzweiflung überzogen, und zählte die anbrandenden Wellen in seinem Kopf. »Bin ich nicht langsam zu alt für ein Wunderkind?«
»Wie alt sind Sie denn?«
»Zweiundzwanzig.«
»Das ist nicht so alt.«
»Und wie alt sind Sie?«
Sie drehte sich ins Profil. Um ihre Augen hatte sich eine Entzündung ausgebreitet, die ihr ein chronisch erschöpftes Aussehen verlieh. Ihre Haut war schlecht, doch ihr Haar ausgesprochen schön. Alexander entwickelte sich allmählich zum Connaisseur. »Ein Gentleman fragt so etwas nicht«, sagte sie.
»Wer sagt denn, dass ich ein Gentleman bin?« Sie hatte sich den Teller mit importierten Käseecken vollgeladen. Er beugte sich darüber und schnappte sich ein Stück Brot. »Sie sind älter als ich, würde ich schätzen. Vierundzwanzig, fünfundzwanzig. Zu alt, um hier einen Mann abzugreifen, falls Sie deshalb hier sind. Woher ich das weiß? Weil ich ein Wunderkind bin? Nee, bin ich nicht. Und kein Held, und wenn Sie noch so drauf bestehen.«
»Tue ich nicht.« Sie hatte nicht gelächelt, also konnte sie auch kein Lächeln dramatisch ersterben lassen.
»Irgendwer muss ja die Schachwelt vor der internationalen Mafia retten, oder?« Er hickste.
»Ach ja? Und wer wäre das?«
Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe und nicktefeierlich. »Ich wäre das. Mit meiner geistigen Unabhängigkeit, wissen Sie? Mit meinem subversiven Spielstil. Ich könnte zur ernsten Bedrohung für Russajew werden, haben Sie vielleicht schon gehört.«
»Vielleicht.«
»Russajew ist ein Dinosaurier. Ein Apparatschik. Waren Sie mal in Kalifornien?«
»Natürlich nicht.«
»Aber ich fahre da hin. In drei Wochen. Nach Pasadena. Was glauben Sie, wie da die Frauen aussehen, in Pasadena?« Er erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Er hörte sie kaum.
»Das weiß ich nicht.«
»Wollen Sie ’nen Witz hören?«
»Eigentlich nicht.«
Er hob sein Glas. »Adam und Eva haben bestimmt in der Sowjetunion gelebt, denn sie hatten zu zweit nur einen Apfel und nichts anzuziehen und dachten, sie wären im Paradies!«
In dem Moment packte ihn eine Hand am Kragen; sie war so unnatürlich weich, dass Alexander gleich Peter Pawlowitsch erkannte. Mit der anderen Hand griff er nach Alexanders Glas. »Entschuldigen Sie«, sagte Peter Pawlowitsch. »Herr Besetow wird leider anderswo verlangt.«
Eine Woche vor der geplanten Abreise nach Pasadena erschien Nikolai auf einem der Feste. Alexander hatte gewusst, dass es früher oder später dazu kommen würde, doch es überraschte ihn, wie gelassen er blieb, als es schließlich so weit war. Nikolai trat hinter einem der Kunstblumenarrangements hervor, die bei diesen Feierlichkeiten den Großteil der Dekoration ausmachten. Alexander hatte einen Angstschock erwartet, der ihm wie ein Skalpell sauber den Brustkorb auftrennte; stattdessen musterte er Nikolai stumpf, mit demselben Gefühl der Taubheit, mit dem man wiederkehrenden Alpträumen begegnet. Nikolai war, ebenso wie Alexander, dicker geworden – sein Hemd spannte bedenklich –, aber sein Gesichtsah jetzt weniger hässlich aus. Vielleicht war er auch nur in seine Hässlichkeit hineingewachsen.
»Hallo Alexander«, sagte Nikolai. »Eine eindrucksvolle Leistung war das in Kaliningrad.«
Alexander sah auf den Heringssalat auf seinem Teller herab. So oft hatte er sich vorgestellt, wie er Nikolai fragen würde, ob er Iwan von Anfang an hintergangen hatte. Und Nikolai würde antworten: »Von Anfang an hintergangen? Da gab es nicht viel zu hintergehen.« Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr fand Alexander, dass dies das eigentlich
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