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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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und nachgiebig sein könnten, hatte er gar nicht gewusst. Zum ersten Mal in seinem Leben heilten die Ekzeme an seinem Hintern vollständig ab.
    Er trat in die KPdSU ein und wurde offiziell Mitglied des Komsomol. Sein Lächeln auf dem neuen internationalen Reisepass verrutschte zu einem höhnischen Grinsen. In seinem neuen Wohnzimmer schlug er freudlos ein Rad, nur weil genug Platz dazu war.
    Er bekam einen neuen Trainer zugewiesen, einen Mann, der unerklärlicherweise immer eine Art Damen-Kopftuch um den Hals trug – außer bei Turnieren, wo ein dicker, sehniger Nacken darunter zum Vorschein kam. Er war ein einfallsloser Spieler, und seine Halssehnen vollführten akrobatische Kunststücke, wenn AlexanderZüge ausführte, die er nicht kannte oder nicht verstand. Und dann gab es noch den allgegenwärtigen, den zudringlichen Peter Pawlowitsch, der sich mitten in Alexanders Leben breitmachte, ihn in Hotels und Restaurants begleitete und ihm warnende Blicke zuwarf, wenn er zu redselig wurde, was nur noch selten geschah.
    Innerhalb weniger Wochen hatte Alexander ein neues Leben begonnen. Es war nicht zu spät dazu, stellte er fest.
    Alexander wurde dicker – langsam, doch so stetig und unausweichlich, wie er älter wurde. Manchmal sah er in seinen gerahmten Spiegel und war sicher, dass er Falten bekam, auch wenn andere ihm versicherten, das sei nicht der Fall. Elisabeta, die bisher sein gesamtes Bewusstsein ungebeten in Beschlag genommen hatte, lauerte jetzt düster im Epizentrum seines Hirns wie ein metastasierendes Krebsgeschwür. Er bemühte sich nach Kräften, sie aus seinem Kopf zu verdrängen. Er versuchte sich mit anderen Dingen zu beschäftigen – hauptsächlich mit Schach, aber auch mit der bestmöglichen Rationalisierung für sein eigenes Verhalten oder der bestmöglichen Ordnung in seinem neuen, eigenen Kühlschrank (der ihm ein ständiger Quell der Freude war). Viel Zeit verbrachte er auch damit, an Sachalin zurückzudenken, an die leuchtend weißen Birkenschonungen, die Ausflüge nach Juschno-Sachalinsk, wo es nach Schlamm und Zwangsarbeitern roch, an die koreanischen Schiffe, die im Schutz der Nacht im Hafen einliefen und illegal Kohle für die Kraftwerke anlieferten. Er aß riesige Salate mit viel echter Mayonnaise (statt der bisherigen Mischung aus Essig und Möbelpolitur). Er versuchte Liegestütze. Er versuchte, Wert auf seine Kleidung zu legen. Er versuchte, sich in die ganz eigenen Details seines eigenen Lebens zu vertiefen, statt sich obsessiv mit jedem Detail jenes anderen Lebens zu befassen.
    Jeden Tag, jeden einzelnen Tag führte er einseitige stumme Zwiesprachen mit Iwan. Er versuchte ihm zu erklären, dass ihm gar nichts anderes übriggeblieben war. Dass er den einzig pragmatischen Schluss gezogen hatte – und waren sie nicht immer schon pragmatisch gewesen? Pure Ideologie hatte noch nie jemandemgutgetan. Er versuchte zu erklären, wie leid es ihm tat. Manchmal wurde er defensiv und erklärte, wenn Iwan wirklich so überragend darin gewesen wäre, Menschen und Situationen zu beurteilen, dann wäre er heute nicht tot. Dann wieder erklärte er, im Leben ginge es nur darum, wie man am besten überlebte. Für die Toten war es leicht, sich moralisch überlegen zu fühlen. Alle anderen mussten sich irgendwie durchschlagen.
    Alexander erklärte und erklärte, doch Iwan schien gar nicht hinzuhören. Antworten tat er jedenfalls nicht.
    Alexander begann zu siegen. Er begann an allem, dem er ausgesetzt war, Geschmack zu finden. Er begegnete Russajew, der schon seit einem Jahrzehnt Schachweltmeister war (allerdings nach einem kampflosen Sieg, nur aufgrund von Fischers theatralischem Getue), und Peter Pawlowitsch plapperte drauflos, was für eine Ehre es für ihn sei, einem derart brillanten Spieler zu begegnen, während Alexander lustlos an seiner Räuchermakrele herumstocherte. Russajew war älter als er, trug einen Schnurrbart und vergaß innerhalb von Minuten Alexanders Namen. Alexander siegte weiter. Er bekam ein höheres Gehalt. Erinnerungen an Elisabeta ließen ihn noch immer vor Scham zusammenfahren, aber nicht mehr vor Schmerz. Wenn er am Telefon mit seiner Mutter sprach, die er seit drei Jahren nicht gesehen hatte, und noch jemand im Raum war, senkte er die Stimme. Er siegte weiter. Als er Russajew zum zweiten Mal begegnete, vergaß dieser Alexanders Namen nicht mehr.
    Er besuchte Cocktailpartys, er besuchte Abendgesellschaften, er besuchte Feste, immer in Gesellschaft von Peter Pawlowitsch, der

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