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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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ihn mit dem besitzergreifenden Stolz eines Vaters oder Sporttrainers anstrahlte. Alexander wurde mehr und mehr zum Trinker, und es gefiel ihm, sich in einen Schleier der Gleichgültigkeit, Wirrnis und Wortkargheit zu hüllen, wenn Pawlowitsch ihm männlich auf die Schulter klopfte. »Ich finde, du hast dich goldrichtig entschieden«, sagte Peter Pawlowitsch auf der Feier nach Alexanders Sieg im UdSSR-Halbfinale 1982. »Ich habe gewusst, dass du rehabilitationsfähigwarst. Ich habe es gewusst.« Auf der Silvesterfeier 1983 sagte er: »Weißt du, wir modernisieren uns jetzt. Alles wird moderner. Auch die Partei. Es geht nicht immer um ideologische Reinheit und so weiter. Stalin ist zu weit gegangen, da sind sich alle einig.« Er fuchtelte mit einem winzigen Kanapee herum, auf dem in der Mitte ein Klecks schwarzen Kaviars saß. »Wir sind ein praktisches Volk, und wir vertreten eine praktische Weltanschauung.« Auf einer Maifeier im Frühjahr darauf stürzte er verschwitzt und nach dem würzigen Tomatensaft riechend, den er getrunken hatte, auf Alexander zu und sagte: »Es geht um Gerechtigkeit, stimmt’s? Es geht um ein Mindestmaß an sozialem Ausgleich.« Er schniefte und blinzelte; in seinem Gesicht lag der bittende Ausdruck eines untauglichen Lehrers, der seinen klügsten Schüler anfleht, keine Meuterei anzuzetteln. »Wir müssen nicht alle radikal sein. Alles, was wir brauchen, ist ein gewisser Grundkonsens, stimmt’s? Die Parteilinie entwickelt sich weiter. Wir alle entwickeln uns weiter. Nur das Grundprinzip ist nicht verhandelbar. Und ich bin so froh, dass du einsichtig geworden bist.«
    War Alexander einsichtig geworden? Nein, war er nicht. Aber vielleicht sah er ein, dass ein begütertes Leben auch seine Vorzüge hatte; vielleicht hatte er die Sicherheit, Saturiertheit und Einsamkeit schätzen gelernt. Er sah ein, dass er nicht für den Widerstand geschaffen war. Er sah ein, was für einen schrecklichen Fehler er begangen hatte. Iwan war tot, und das allein bewies, wie tödlich es war, unschuldig zu bleiben. Was hatte er damals schon gewusst? Er hielt sich besser an sein Spiel, an das Hin- und Herschieben von Holzfiguren auf einem Brett. Die Einsätze waren auf internationaler Ebene hoch genug, und meistens starb niemand dabei.
    Er spielte im Interzonenturnier. Im Kandidatenturnier. Er siegte und siegte, und er siegte weiter, und er genoss die Aufmerksamkeit, die er bekam – das Geschnatter der Kameraverschlüsse, die Interviews in kleinen Textkästen in den Tageszeitungen. Vielleicht genoss er sogar die kleingeistige, beschränkte Befriedigung, genau das zu tun, was man von ihm erwartete. Er war der lebende Beweis,dass Schach eine Spezialität der Sowjetunion war, wenn schon nicht die Geopolitik, und das bisschen Nationalgefühl, das er besaß, wurde – wenn überhaupt – von dieser Vorstellung angefacht. Er las jedes seiner Interviews, und sie klangen immer distanziert und lächerlich, immer sehr viel selbstzufriedener, als er sich je gefühlt hatte. Das Leben war erträglich. Er dachte nie an Elisabeta. Er hielt die meiste Zeit den Mund. Wenn er hin und wieder bei feierlichen Anlässen zu viel trank und sarkastische Bemerkungen über die FIDE oder die Partei fallenließ, schien sich kaum jemand etwas daraus zu machen. Die Funktionäre blieben höflich. Falls sie von seiner Vergangenheit wussten – und das taten sie bestimmt –, wussten sie dieses Wissen geschickt hinter ihrem Dauerlächeln und ihrem leberkranken Blick zu verbergen. Falls sie es wussten, hatten sie freundlicherweise beschlossen, es zu verdrängen.
    Alexander tat das Einzige, in dem er je gut gewesen war, und er tat es mit Erfolg. Er war allein – immer allein, und am allermeisten dann, wenn er jemandem unmittelbar gegenübersaß und spielte –, doch er hatte sich mit seiner Einsamkeit ausgesöhnt; er lebte in ihrem Mittelpunkt und stieß sich nur selten an ihren Grenzen. Im Jahr 1983 hatte er es so weit gebracht, dass man ihn nach Pasadena, Kalifornien, schicken wollte, um die Amerikaner im Halbfinale der Weltmeisterschaft zu besiegen. Als Preisgeld waren fünfzigtausend Dollar ausgelobt. Er dachte nie an Elisabeta. Nachts träumte er von Palmen und von festen Währungen.
    Zu den Festen kamen hin und wieder Frauen, mit denen Alexander allerdings selten ein Wort wechselte. Die Frauen der Parteimitglieder waren meist ältere, matronenhafte Damen, abweisend in ihren hochgeschlossenen Sekretärinnenblusen und umgeben von einem Hauch

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