Das Leben ist groß
waren bescheiden; ich wollte durchaus nichts Außergewöhnliches. Nur ein normales Leben mit einer normalen Lebenserwartung und normalen Annehmlichkeiten und einer normalen Liebe, die unausweichlich nach der normalen Frist vor die Hunde gehen würde. Das alles waren keine skandalösen Forderungen. Vielleicht hatte ich geglaubt, meine eine skandalöse Forderung – diesen Mann zu treffen, an seiner Weisheit teilzuhaben, ein einziges gestohlenes Geheimnis mit ins Grab zu nehmen –, würde mir im Ausgleich für all die anderen gewährt. Sobald ich mir das klarmachte, stellte ich allerdings fest, dass diese Vorstellung eine Instanz voraussetzte, die gewährte und nicht gewährte Wünsche gegeneinander aufrechnete, was eine verkappte religiöse Überzeugung war. Also versuchte ich es mir aus dem Kopf zu schlagen.
Aber merkwürdig war es schon: Ich hatte oft an meiner Mission gezweifelt; ich hatte bis zum Abwinken meine Motive in Frage gestellt, meine Hoffnungen zurückgeschraubt und meine unausgesprochenenPrämissen ausgesprochen. Aber ich hatte nicht ein einziges Mal daran gedacht, dass Besetow vielleicht kein würdiges Ziel all dieser Sorgen und Hoffnungen war. Ich selbst mochte eine unwürdige Bittstellerin sein – ignorant, fehlgeleitet, arrogant und fordernd. Aber Besetow war unanfechtbar. Wenn er nicht die Lösung aller Probleme in Händen hielt, gab es keine.
Peinlicherweise trugen mich meine Beine ausgerechnet zur Kasaner Kathedrale, wenn auch aus rein ästhetischen Gründen (der Implizite Assoziationstest hatte ergeben, dass mir alle Weltreligionen gleichermaßen gleichgültig waren). Ich ging hinein. Die Kuppel war fast so groß wie die des Petersdoms und leitete bunt geschecktes Licht ins Innere. Eine schwarzweiße Katze lag ungerührt auf einer Kiste in der Ecke. Ihr gegenüber blickten farbsatte Heilige sehnsüchtig aus ihren vergoldeten Rahmen hervor, auf ewig in der zweiten Dimension festgebannt.
Blasphemisch wie immer, dachte ich nur an Jonathan. Es ist keine große Tragödie, jemanden zu verlieren. Jede zweite Ehe wird geschieden – was für eine langweilige, überstrapazierte Statistik –, und ich bilde mir nicht ein, dass es mit uns anders gekommen wäre. Dem entgangen zu sein hat immerhin sein Gutes: Es ist eine große Lebensniederlage weniger. Jemandes Abwesenheit kann einen so sentimental werden lassen, aber in seiner Gegenwart dauerhaft sentimental zu sein ist unmöglich, in dem ganz alltäglichen Egoismus und dem Schweigen, aus dem angeblich der Großteil eines Lebens besteht. Trotzdem – er und ich waren noch so neu. Wir standen am rückhaltlosen, glücklichen Anfang, von dem aus man all die kommenden Erniedrigungen weder ahnt noch sieht. Wir wussten noch nicht, was uns je davon abbringen könnte, einander zu lieben.
Zuerst hatte ich gehofft, der Trennungsschmerz könnte sich als heilsam erweisen, könnte mich stärken und bessern wie einen Diamanten, der unter Druck aus Kohle entsteht, oder eine Perle, die sich der ständigen Reibung eines Sandkorns verdankt. Aber wenn ich ehrlich war, fand ich es – besonders jetzt, nach der Begegnung mit Michail Andrejewitsch – einfach nur ermüdend.
Ich blieb eine Weile dort sitzen und starrte in die Kerzen, die in ihren roten Halterungen für anderer Leute Hoffnungen brannten, für Gebete und für aussichtslose Fälle. Ich erinnerte mich, wie ich einen anderen Fluss entlanggegangen war, mit anderen Neigungen und Ängsten im Herzen.
KAPITEL 11
Alexander
Leningrad, 1982-1986
Als Alexander endlich aus Moskau wieder in Leningrad ankam, stand jemand vor seiner Haustür und erwartete ihn. Im Zug hatte Alexander die ganze schlaflose, paranoide Nacht hindurch jedes Mal, wenn er eindöste, Nikolais grinsende Fratze vor sich gesehen, und als er eine Gestalt unter dem ausgemergelten Baum am Eingang entdeckte, erstarrte er. Doch es war nicht Nikolai. Es war Peter Pawlowitsch Nikitin, der sich dort in den Wind lehnte.
Peter Pawlowitsch sah Alexander entgegen. Er warf seine Zigarette zu Boden und sah zu, wie sie im Schnee verlosch. Doch er rührte sich nicht vom Fleck. Alexander begriff, dass Peter Pawlowitsch warten würde, bis er zu ihm kam.
Er überlegte umzudrehen. Er überlegte, sich wieder in den Zug zu setzen und wegzufahren – aber wohin? Zu wem? Nach Moskau, in den Untergrund? Ins Saigon an den Tresen?
Er ließ es bleiben. Mit vor Angst gebleckten Zähnen ging er auf Pawlowitsch zu. »Was wollen Sie hier?«, fragte Alexander.
»Raten Sie
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