Das Leben kleben
alles.
Ich drehte das Flugblatt um. Die andere Seite zeigte Bilder von israelischen landwirtschaftlichen Produkten. Avocados. Zitronen. Orangen. Erdbeeren. Naja, wenigstens hatte ich die Erdbeeren nicht gekauft.
»Aber wenn sie schon reduziert sind, ist es doch ...?«
Sie sah mich mit ihrem ernsten Blick an. »Haben Sie eine Ahnung, wie viel Wasser man braucht, um in der Wüste Erdbeeren zu kultivieren? Wo, meinen Sie, kommt das ganze Wasser her?«
Plötzlich drehte sie den Kopf, und als ich ihrem Blick folgte, sah ich einen Polizei wagen vorfahren und zwei Beamte aussteigen - einen Mann und eine Frau. Sie kamen auf uns zu. Auch die beiden sahen sehr jung aus.
»Würden Sie bitte weitergehen?«, sagte der Mann. »Sie blockieren den Ausgang.«
»Nein, tun wir nicht«, sagte ich, obwohl es klar war, dass er eigentlich das Mädchen meinte. Sie stopfte ihre Flugblätter und ihr Klemmbrett in eine Tasche. »Es ist eine Beschwerde eingegangen«, sagte die Polizistin, fast entschuldigend.
»Wir haben uns nur unterhalten«, sagte ich. »Über Avocados. Wir dürfen doch noch auf dem Bürgersteig stehen und uns unterhalten, oder?«
Die Polizistin lächelte und sagte nichts. Ich sah mich nach dem Mädchen um, doch es war verschwunden.
Ich dachte immer noch über die Sachen in meinen Tüten nach, als ich zur Bushaltestelle Islington Green zurückging. Es war ja nur abgelaufene Ware. Es wäre Verschwendung, das Zeug verkommen zu lassen. Oder? Was hätte meine Mutter getan? Ich erinnerte mich an einen Vorfall während des letzten Bergarbeiterstreiks. Es war der Winter 1984 und es war bitterkalt. Das Feuerholz war knapp. Ich hatte einen Sack Kohle von der Tankstelle mit nach Hause gebracht. Mein Vater weigerte sich, sie unter seinem Dach zu haben.
»Wir heizen nicht mit Streikbrecherkohle«, sagte er. »Da erfriere ich lieber.«
Er hatte den Sack genommen und in die Mülltonne geleert. Doch als ich am nächsten Morgen den Müll rausbrachte, war die Kohle nicht mehr da. Meine Mutter hatte nie etwas gesagt, doch ich fragte mich, ob sie nicht in der Nacht heimlich die Kohlen aus der Tonne geklaubt hatte. Wer den Pfennig nicht ehrt.
An der Bushaltestelle hatte sich schon eine Schlange gebildet. Die Sonne war verschwunden, ein kalter Wind war aufgekommen, und ich bekam langsam Hunger. Ich kramte in meinen schandbaren Tüten herum und brach eine reife Banane von dem Büschel. Wenigstens die durfte man ohne schlechtes Gewissen essen - oder doch nicht? Dann bemerkte ich ein Paar, das mit dem Rücken zu mir vor einem Schaufenster stand. Der Mann war groß, blond, athletisch gebaut; irgendetwas an ihm kam mir bekannt vor. Sein Kopf war irgendwie zu groß im Verhältnis zum Körper. Überrascht stellte ich fest, dass es Rip war. Mir war nie aufgefallen, dass sein Kopf so groß war. Schön, aber groß. Wie Michelangelos David. Die Frau war klein, selbst in Stöckelschuhen, mit einem glatten dunklen Bubikopf und rotem Lippenstift. Ich starrte sie an. Es war Ottoline Walker. Was ging hier vor? Wo war das Muskelpaket? Sie trug einen engen Mantel, der ihre Figur betonte. Ich sah ihr Spiegelbild im Schaufenster. Die beiden hielten Händchen. Sie lachte über etwas und sah zu ihm auf. Dieses Miststück! Er beugte sich zu ihr und küsste sie.
In diesem Moment hakte etwas in mir aus. Ein Geräusch löste sich in meiner Brust, schwoll an und bahnte sich den Weg nach draußen - aaah! Yaaah! - ein schrilles Heulen, das in meiner Kehle kratzte. Sie drehten sich um. Alle drehten sich um. Ich rannte über den Bürgersteig.
Halt! Einatmen - zwei - drei...
Ach, scheiß drauf! Die Banane schoss nach vorn und landete als weicher, glitschiger Matsch in Ottolines Gesicht. Sie wollte sich wehren, aber die Banane in meiner Hand - sie bewegte sich wie von selbst im Kreis. Drückte sich in ihre Nasenlöcher. Verschmierte ihren nuttenroten Lippenstift. Hinterließ weiche, faserige Streifen in ihren Augenbrauen. Rip riss den Mund auf - wieder dieser runde Fischmund - o! Dann packte er mich am Arm.
»Georgie! Hör auf! Bist du verrückt geworden?«
Blöde Frage.
»Aaah! Yaaah!«
Dann war sie dran und schrie mich an. »Warum tust du so etwas?«
Diese Stimme - ihre Eltern mussten ein Vermögen ausgegeben haben, um ihr beizubringen, so zu reden. Man hörte ihrer Stimme an, dass sie immer alles bekam, was sie wollte.
»Du hast wohl geglaubt, du kannst ihn einfach so haben, was? An mich hast du nicht gedacht - an mich und Ben und Stella. Er gehört
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