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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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mit nur leichten braunen Flecken - die sie noch schmackhafter machten - reduziert auf 29 Pence; zwei Netze Orangen zum Preis von einem; ein Plastikkörbchen Erdbeeren von weiß-der-Himmel-woher eingeflogen, hübsch, aber ohne jeglichen Geschmack. Ich dachte an die Erdbeeren, die mein Vater früher im Schrebergarten in Kippax zog - ihr frischer, intensiver Geschmack, der Kuss des Sommers auf der Zunge, die gelegentliche Nacktschnecke, damit man wachsam blieb. Keir und ich gingen nach der Schule oft raus und pflückten eine Schüssel voll fürs Abendessen, und auf dem Heimweg stritten wir uns darum.
    Nein, nicht mal den halben Preis waren diese Erdbeeren wert. Wo wuchsen so früh im März Erdbeeren, fragte ich mich auf dem Weg zum Ausgang. An der Tür verteilte ein junges Mädchen Flugblätter - anscheinend hatte ich sie beim Hineingehen übersehen. Ich nahm automatisch das Flugblatt, das sie mir entgegenstreckte, und wollte es schon zu meinen Einkäufen in die Tüte stecken, doch da sprangen mir die Worte entgegen: BOYKOTTIERT ISRAELISCHE PRODUKTE.
    Als sie mein Interesse bemerkte, hielt sie mir ein Klemmbrett mit einer Liste hin. »Wollen Sie unsere Petition unterschreiben?« »Worum geht es denn?«
    »Wir wollen von der Regierung die Zusage, im Parlament keine landwirtschaftlichen Produkte aus Israel mehr zu servieren. Bis Israel die UNO-Resolution 242 akzeptiert.«
    »Ist das nicht ...?« Ich unterbrach mich. Das Wort, das mir auf der Zunge lag, war »sinnlos«.
    Sie blickte mich feierlich mit ihren hellen Augen an. »Es wird alles auf gestohlenem Land angebaut. Mit gestohlenem Wasser bewässert«, sagte sie.
    »Ich weiß, aber ...« Aber was? Aber ich wollte nicht darüber nachdenken - ich wollte mit meinen Tüten nach Hause. »Aber, ich meine, das ist doch alles schon so lange her. Es war schrecklich, ich weiß. Die Nabka.« (Oder hieß es Nakba?) »Aber war das nicht - na ja, notwendig?«
    »Das ist doch Quatsch!« Dann riss sie sich zusammen. »Tut mir leid, ich sollte mich nicht so aufregen.« Ich bemerkte, dass sie sehr jung war - kaum älter als Ben. Ihr Haar war kurz und stand stachelig vom Kopf ab. »Aber das ist nicht etwas, das vor langer Zeit passiert ist. Es passiert immer noch. Jeden Tag. Sie stehlen palästinensisches Land. Ebnen palästinensische Häuser ein. Bringen jüdische Siedler hin. Aus Moskau und New York und Manchester.« Sie sprach sehr schnell, rasselte ihr Plädoyer herunter, als fürchtete sie, meine Aufmerksamkeit zu verlieren.
    »Das kann nicht wahr sein.« Wenn das wahr wäre, dachte ich, würde gewiss jemand dafür sorgen, dass es aufhörte.
    »Es ist wahr. Der Internationale Gerichtshof sagt, dass es illegal ist. Aber Amerika unterstützt sie. Und England auch.«
    »Warum würde jemand aus New York weggehen wollen, um mitten in der Wüste zu leben?«
    »Sie glauben, Gott hätte ihnen das Land geschenkt. Um einen israelischen Staat darauf zu errichten. Die Leute, die vor ihnen da waren, die Palästinenser, haben sie vertrieben. Die, die übrig sind, haben sie eingemauert. Ihnen ein paar lächerliche Reservate zugestanden. Wie den Indianern. Den Aborigines in Australien. Sie denken, wenn man ihnen das Leben schwer genug macht, dann verschwinden sie von selbst. Unbequeme Leute. Die zufällig im Weg waren. Den Träumen der anderen im Weg standen.«
    »Aber die Uhr lässt sich nun mal nicht zurückstellen, oder?«
    »Warum nicht? Man brauchte nur ins Jahr 1967 zurück. Vor den Sechstage-Krieg, die Grüne Linie, Gaza und das Westjordanland.«
    Das wurde mir jetzt alles ein bisschen zu geographisch. Was für eine Grüne Linie? Doch ihr Ernst hatte auch etwas Entwaffnendes. Ich warf einen Blick auf das Flugblatt. Auf einer Seite war eine grob gezeichnete Karte, die eine dünne gerade Linie zwischen Israel und Palästina zeigte, und eine zweite Linie, grün, ein Stück weiter rechts, die das palästinensische Land begrenzte, das nach dem Sechstage-Krieg besetzt worden war. Zwischen den beiden Linien klaffte eine Lücke. Und dann war da noch eine dritte Linie, grau schraffiert, eine verzerrte Schlangenlinie rechts neben der grünen Linie. Rechts ist Osten, links ist Westen, erinnerte ich mich. In der Legende stand: Verlauf der Sperrmauer. Ich gab mir Mühe, genau hinzusehen, während ich versuchte, mich an die Karte zu erinnern, die Mr. Ali gezeichnet hatte, und mich fragte, warum mich plötzlich alle mit Landkarten bestürmten. Je genauer ich hinsah, desto unklarer erschien mir das

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