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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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sind so viele Wachleute. Wie im Gefängnis.« Sie schnäuzte sich, dann öffnete sie das Taschentuch, um nachzusehen, was herausgekommen war. Es sah grässlich grün aus. »Wie geht es meinen lieben Katzen?«
    »Gut. Sie warten auf Sie. Ich habe ein paar junge Männer bei Ihnen einquartiert, damit sie sich um die Katzen kümmern. Und das Haus in Schuss halten.« Ich sah ihren erschrockenen Blick. »Keine Sorge. Sobald Sie nach Hause kommen, ziehen sie aus.«
    Vom Geruch in dem Zimmer wurde mir schlecht. Ich stand auf und öffnete das Fenster. Etwas Bewegung kam in die stickige, überhitzte Luft, und wir konnten den Verkehr auf der Lea Bridge Road hören und die Stimmen von Kindern, die in der Nähe spielten. Mrs. Shapiro holte tief Luft, und ihre Augen schienen ein wenig heller zu werden.
    »Danke, Darlink.« Sie drückte mir die Hand und musterte mich unter faltigen Augenlidern hervor. »Sie sehen besser aus, Georgine. Hübscher Lippenstift. Hübscher Schal. Haben Sie schon einen neuen Mann?«
    »Noch nicht.«
    »Vielleicht habe
ich
bald einen neuen Mann.« Sie lächelte schelmisch, als sie mein überraschtes Gesicht sah. »Nicky hat gesagt, er will mich heiraten.« »Mr. Wolfe?«
    Ich war sprachlos. Dieser gerissene Teufel! Ich erinnerte mich, wie aufgedreht sie war, als er bei ihr in der Küche saß und sie mit Sherry abfüllte.
    »Erst hab ich gedacht, er wäre der perfekte Mann für Sie, Georgine. Aber Sie haben sich nicht für ihn interessiert. Und jetzt ist es vielleicht meine Chance.« Ihr Lächeln wurde nahezu neckisch. Sie war schon viel munterer. »Was meinen Sie? Soll ich meinen Nicky heiraten?«
    »Weiß er denn, wie alt Sie sind?«
    »Ich habe ihm gesagt, ich wäre einundsechzig.« Sie fing meinen Blick auf und kicherte. »Sie finden mich schrecklich ungezogen, nich wahr, Georgine?«
    »Sie sind wirklich ein bisschen ungezogen, Mrs. Shapiro.«
    »Aber warum soll man sich lange aufs Grab vorbereiten? Das Grab holt einen schon noch ein, nich wahr? Warum nicht den Augenblick genießen, wenn er vorüberfliegt.« Sie flatterte mit den Händen. »Kennen Sie den Vers von Goethe?«
    Ich schüttelte den Kopf. Dann fiel mir etwas ein.
    »Vielleicht ist es, weil ...« Ich erinnerte mich daran, wie er am Telefon nach Luft geschnappt hatte. »Ich habe ihm erzählt, dass Sie einen Sohn haben.«
    Der Sohn würde alles erben. Es sei denn natürlich, sie heiratete wieder.
    Sie sah mich scharf an. »Woher wissen Sie von einem Sohn?«
    »Die Frau vom Sozialdienst hat es mir gesagt. Mrs. Goodney.«
    Sie schwieg. Ich tat so, als würde ich aus dem Fenster sehen. Wortlos versuchte ich sie zum Reden zu bringen, doch sie war still geworden.
    Nach einer Weile sagte sie: »Ach, diese Frau. Die denkt immer nur daran, wie sie mich am besten beschwindeln kann. Ich habe ihr gesagt, dass ich einen Sohn habe, weil sie wollte, dass ich die Handelsvollmacht unterschreibe. Ich habe gesagt, mein Sohn soll mit ihr handeln. Er kriegt das Haus.«
    »Aber er ist gar nicht Ihr Sohn, nicht wahr?«, fragte ich sanft.
    Sie ließ eine Pause. »Nicht meiner. Nein.«
    »Wer war dann seine Mutter?«
    Sie seufzte. »Diese ganze Megillah ist viel zu lang. Sie sind längst eingeschlafen, bevor ich alles erzählt habe.« »Erzählen Sie sie mir trotzdem.«
    »Es war die andere. Die Naomi Shapiro.«
     
    Stück für Stück holte ich alles aus ihr heraus. Ihr echter Name sei Ella Wechsler, sagte sie und sprach ihn so sorgfältig aus, als sei sie sich nicht mehr sicher, ob er zu ihr gehörte. Sie war 1925 in Hamburg geboren. Ich rechnete aus, dass sie damit einundachtzig war. Sie stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie. Speck, aber keine Wurst. Sabbat und Sonntag. Weihnachten und Chanukka. Nicht dass die Nazis Unterschiede machten, als es so weit war. Ihr Vater Otto Wechsler leitete eine erfolgreiche Druckerei; ihre Mutter Hannah war Pianistin; ihre älteren Schwestern Martina und Lisabet studierten. Das Haus, eine große vierstöckige Villa im Hamburger Stadtteil Grindel, war Treffpunkt von Musikern, Künstlern, unglücklichen Liebenden, Träumern, Reisenden, die kamen und gingen, vier Katzen und einem Hausmädchen namens Dotty. Es gab immer Kaffee mit Schlagsahne, Musik und Unterhaltung. Sie gluckste. »Wir waren bessere Deutsche als die Deutschen. Ich dachte, das wäre das normale Leben. Ich wusste nicht, dass uns Juden dieses Glück nicht gestattet war, Georgine. Ich wusste nicht, was es heißt, jüdisch zu sein, bis Hitler es uns

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