Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
Vom Netzwerk:
zu passen, die mir ans Herz gewachsen war.
    »Sehen Sie sich doch meine Hände an, Darlink.«
    Sie hielt sie mir hin, knotig, mit geschwollenen Gelenken und verschrumpelter, braun gefleckter Haut. Ich nahm sie und wärmte sie mit meinen. Sie waren so kalt. »Und Naomi? Wer war sie?«
    Ich dachte an die Fotos, das hübsche herzförmige Gesicht, die braunen Locken, die verspielten Augen. Mrs. Shapiro antwortete nicht. Sie starrte in die Leere vor dem Fenster. Als sie schließlich sprach, sagte sie nur: »Naomi Löwenthal. Sie war ziemlich groß.«
    Dann wurde sie wieder still. Ich unterbrach nicht. Ich wusste, sie würde es mir erzählen, wenn sie so weit war.
    »Ja, hübsch. Immer mit rotem Lippenstift, hübschen Schmatten. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet sie auswandern würde und in Israel im Boden herumbuddeln?« Ihr Mund zuckte. Wieder wurde sie still. Sie zog ihre Hände aus meinen und begann mit ihren Ringen zu spielen. »Manche sagen, sie war schön. Augen, die strahlten wie Feuer. Ja, sie hatte Feuer in sich. Und sie war natürlich in Arti verliebt.«
    »Und er ...?«
    Sie schniefte. »Ja. Und er auch in sie.«
    Artem Shapiro und Naomi Löwenthal heirateten im Oktober 1945, direkt nach dem Krieg, in der Synagoge in Whitechapel. Ella, Hannah und Otto Wechsler gingen zur Hochzeit. Lisabet war in Dorset in den Flitterwochen, sie hatte einen polnisch-jüdischen Piloten geheiratet. Martina war im Juli 1944 von einer V2-Rakete getötet worden, auf dem Heimweg vom Chest Hospital in Bethnal Green. Es war einer der letzten Luftangriffe des Krieges. Doch beim Hochzeitsmahl ließ Mr. Gribb sich nicht lumpen. Selbst aus Stepney kamen die Leute, nur um ein Stück Huhn abzukriegen.
     
    Ein lautes Klopfen an der Tür ließ uns beide zusammenzucken. Ohne eine Antwort abzuwarten, platzte die Frau in der rosa Uniform herein, der ich vorher auf dem Gang begegnet war.
    »Teezeit, Mrs. Shapiro.«
    Dann sah sie mich.
    »Sie müssen gehen«, sagte sie. »Mrs. Shapiro darf keinen Besuch haben.«
    »Ich bin kein Besuch. Ich bin ...« Ich dachte hastig nach. »Ich bin die Adhäsionsberaterin.«
    »Oh.« Das saß. Sie musterte mich von oben bis unten und versuchte meinen Status einzuschätzen. »Ich dachte, Sie wären Mrs. Browns Nichte. Sie müssen erst über die Heimleiterin einen Termin ausmachen.«
    »Natürlich.« Ich stand auf und imitierte Mrs. Sinclairs Tonfall. »Wenn Sie uns jetzt allein lassen würden. Wir haben unser Beratungsgespräch fast beendet.«
    »Ich muss die Heimleiterin informieren.« Sie schüttelte den Kopf. »Es geht nicht, dass hier einfach so die Leute hereinspazieren.«
    Als wir wieder allein waren, packte Mrs. Shapiro meine Hände.
    »Behalten Sie mein Geheimnis für sich, Georgine?«
    »Natürlich.«
    »Was soll ich tun?«
    »Unterschreiben Sie nichts. Heiraten Sie Nicky nicht.« »Aber wenn ich verheiratet bin, müssen sie mich nach Hause gehen lassen, oder?«
    »Ich versuche Sie hier herauszuholen.«
    »Wenn ich nein zu ihm sage, kommt er nicht mehr her. Am besten sage ich vielleicht ja, vielleicht nein.« Sie zwinkerte mir zu.
    »Sie sind sehr ungezogen, Mrs. Shapiro.« Ich lachte. »Wie schafft er es, hier hereinzukommen? Erlaubt die Heimleiterin das?«
    »Er sagt, er wäre mein Anwalt.« »Aha. Clever. Aber ...«
    Genau genommen, dachte ich, brauchte sie genau das - einen echten Anwalt.
    Vom Korridor hörten wir schnelle Schritte und Stimmen. Ich gab Mrs. Shapiro ein Küsschen auf beide Wangen und verabschiedete mich schnell, als die Schritte die Tür erreichten. Die Dame in der rosa Uniform war zuerst da, gefolgt von einer großen Frau in einer grünen Strickjacke und einem Wachmann. Ihre Gesichter waren vor Aufregung gerötet. Doch bevor sie loslegen konnten, wurden sie von einem grässlichen Schrei abgelenkt, der aus Richtung Zimmer 23 kam. Ich lief hinaus - wir liefen alle hinaus - und auf dem Flur stand die Übergeschnappte, wedelte mit den Armen und schrie: »Hilfe! Hilfe! Hier liegt eine Leiche!«
    In dem anschließenden Chaos vergaßen sie mich. Ich glitt durch die Schiebetür, als jemand anders hereinkam, und lief mit eingezogenem Kopf zur Bushaltestelle in der Lea Bridge Road. Auf dem Heimweg im Oberdeck des Busses schmiedete ich Pläne zur Rettung von Mrs. Shapiro.
     

36 -
Ein Ausflug zum Baumarkt
    Am nächsten Morgen rief ich Ms. Baddiel an. Zu meiner Überraschung meldete sie sich gleich nach dem ersten Klingeln.
    »Oh, Gott sei Dank, dass ich Sie erreiche. Etwas Schreckliches ist

Weitere Kostenlose Bücher