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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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erklärte.«
    Doch im Jahr 1938 war Hitlers Botschaft klar und deutlich - und die Familie begriff, dass sie aus Deutschland fliehen musste, bevor es zu spät war.
    »Zu dieser Zeit wollte Hitler die Juden nur aus Deutschland loswerden. Die Vernichtungspläne kamen erst später.«
    Die Wechslers - Ella, Martina, Lisabet und ihre Eltern - flohen nach England. Ella war fast dreizehn, Martina siebzehn, Lisabet zwanzig. 1938 hatten es die Wechslers unter Einsatz einer Menge Geld geschafft, aus Deutschland herauszukommen, doch in England erwartete sie kein warmes Willkommen. Nach dem Ausländergesetz von 1905 durfte in England nur einreisen, wer bereits eine Arbeit hatte.
    »Die Engländer wollten uns auch nicht. Zu viele Juden sind vor den Pogromen in Polen, Russland und der Ukraine geflohen. Es war wohl so etwas wie ein Volkssport, die Juden zu verjagen, nich wahr?«
    Durch einen Cousin mütterlicherseits gelangte Otto Wechsler an eine Stelle in einer Druckerei in der Whitechapel Road mit einer riesigen alten Heidelberger Druckmaschine, die er wieder zum Leben erweckte. Der Besitzer Mr. Gribb war ein alter Witwer aus Jelisawetgrad, der ursprünglich Gribowitsch hieß, bevor er seinen Namen änderte, und dessen Familie 1881 vor den Pogromen geflohen war. Hannah Wechsler wurde seine Haushälterin. Lisabet arbeitete in einer Bäckerei. Martina lernte Krankenschwester. Ella besuchte die jüdische Schule in Stepney. Sie lebten in einer winzigen Zweizimmerwohnung über der Druckerei (»Was wir anfassten, war schwarz von Tinte«) im Herzen der jüdischen Gemeinde im East End und schätzten sich glücklich.
    Über die Schweiz erhielten sie verschlüsselte Briefe von ihrer Familie, die von den Schrecken der Kristallnacht berichteten, der Enteignung der Geschäfte, der Verordnung über das Tragen des gelben Judensterns an der Kleidung, den Berufsverboten (Cousin Berndt musste seine chirurgische Praxis aufgeben und im Park Laub fegen), den öffentlichen Erniedrigungen, den hässlichen Übergriffen auf den Straßen (Onkel Frank wurden von einer johlenden Bande Schuljungen die Schneidezähne ausgeschlagen). Taten, die für jede Einzelperson moralisch abstoßend waren, wurden unterhaltsam, sobald sich eine jubelnde Menge fand, die Beifall klatschte. Dann fingen die Massendeportationen an, und es kamen keine Briefe mehr.
    Ich spürte das Beben in Mrs. Shapiros Schultern, das Rasseln ihrer Atemzüge. Wir saßen immer noch nebeneinander auf der Bettkante. Das Licht im Fenster wurde schwächer und der Straßenlärm lauter, als die Hauptverkehrszeit begann. Aber wir waren in einer anderen Welt.
    »Erzählen Sie mir von Artem. Wann haben Sie ihn kennengelernt?«
    »Er kam 1944 nach London. Im Frühling. Augen wie ein Wahnsinniger. Er fragte immer noch herum, ob jemand seine Schwester gesehen hätte.«
    Bis auf die Knochen abgemagert, verlaust und hohläugig landete er mit einem britischen Handelsschiff in Newcastle, das mit einer Ladung Butter und Kugellager heimlich aus Göteborg ausgelaufen war. Die Seemannsmission hatte ihn aufgenommen und reichte ihn an eine jüdische Hilfsorganisation weiter, über die er in die Wohnung in der Whitechapel Road kam. Dort blieb er ein Jahr, half in der Druckerei und schlief auf einem Feldbett in der Werkstatt. Er war geschickt mit den Händen. Er redete nicht viel - er sprach russisch und nur ein paar Brocken Deutsch und Englisch -, doch sein Schweigen, so düster und geheimnisvoll, schien für die Mädchen Bände zu sprechen. In seiner Freizeit begann er eine Geige zu bauen. Lisabet, Martina und Ella sahen zu, wie er mit der Laubsäge und dem Leim arbeitete, den Kopf tief über die Werkbank gebeugt, eine dünne, selbstgedrehte Zigarette zwischen den Lippen, und vor sich hin summte. Inzwischen war Ella achtzehn, Martina war dreiundzwanzig und Lisabet sechsundzwanzig. Alle drei hatten ein wenig Angst vor ihm und waren ein wenig verliebt in ihn. »Hat er die Geige fertig gebaut?«
    »Ja. Gott weiß, wo er die Saiten herhatte. Aber damals konnte man in der Petticoat Lane alles kaufen. Wenn er spielte, war es, als würden die Engel im Himmel spielen. Manchmal haben Mutti oder ich ihn auf dem Klavier begleitet.«
    Ich erinnerte mich an die Notenhefte in dem Klavierhocker. Delius.
Zwei braune Augen.
Ella Wechsler. Ihr Name stand vorn in dem Notenheft, doch die braunen Augen gehörten einer anderen.
    »Spielen Sie immer noch Klavier, Mrs. Shapiro? Ella?« Irgendwie schien der neue Name nicht zu der alten Dame

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