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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Schlafzimmer und breitete die Fotos auf dem Boden aus. Artem als Baby, das Hochzeitsfoto, das Paar am Brunnen, die Frau unter dem Torbogen, die zwei Frauen vor dem Haus in Highbury, Familie Wechsler, der Moschaw bei Lydda. Um halb fünf steckte Ben den Kopf zur Tür herein, um zu sehen, was ich machte, und brachte mich auf ein Detail, das so augenfällig war, dass ich es längst hätte bemerken müssen.
    »Warum hat er ein Gewehr?«
    »Wer?«
    »Der Mann, der das Foto gemacht hat. Sieh doch.«
    Er zeigte auf einen dunklen Fleck im steinigen Vordergrund. Es war der Schatten des Fotografen - die Sonne war hinter ihm, und die Silhouette des Kopfes und der Schultern war zu sehen, die Arme mit der Kamera und etwas Langes, Gerades, das von seiner Schulter hing. Ja, es konnte ein Gewehr sein.
    Er nahm das Foto der Frau unter dem Torbogen und drehte es um.
    »Wer ist sie?«
    »Ich glaube, das muss Naomi Shapiro sein.« »Die alte Dame, die um die Ecke wohnt?« »Nein, eine andere.« »Hier steht Lydda.« »Das ist ein Ort. In Israel.«
    »Ich weiß, Mum. Das kommt in einer der Prophezeiungen vor. Es ist der Ort, wo der Antichrist wiederkehrt.« Seine Stimme wurde heiser. »Sei nicht albern, Ben«, sagte ich. Dann sah ich seinen Blick. »Tut mir leid - ich meinte nicht, dass
du
albern bist, sondern dass
es
albern ist. Dieses ganze Zeug über den Antichrist. Putin und der Papst. Prince Charles und sein böser Strichcode.« Ich versuchte witzig zu klingen, aber Ben lächelte nicht.
    »Die Moslems nennen ihn Daddschal? Er hat nur ein Auge? Er wird bei einer heftigen Schlacht an den Toren von Lydda von Jesus erschlagen?« Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen.
    »Ben, das ist doch alles ...« Das Wort, das mir auf der Zunge lag, war »Quatsch«, aber ich hielt es zurück.
    »Ich weiß, dass du nicht daran glaubst, Mum. Ich werde nicht mit dir streiten, okay? Ich weiß ja nicht mal, ob ich das wirklich alles glaube. Aber ich weiß, dass da irgendwas dran ist. Ich weiß es einfach. Ich fühle es kommen, verstehst du?«

Teil 5
Wenn es sie doch aus der Tube gäbe

39 - Schwer wie Wassermelonen
    Am nächsten Tag ging ich bei Canaan House vorbei in der Hoffnung auf ein Wort mit Mr. Ali. Ich wollte ihn nach Lydda fragen. Nach meinem beunruhigenden Gespräch mit Ben am Abend hatte ich mich ins Internet eingeloggt, um etwas über die Prophezeiungen zu erfahren, in denen Lydda vorkam. Diese Geschichte - ich wusste nicht genau, wo sie hinführte, aber durch Ben war sie auch zu meiner Geschichte geworden, und ich wusste, ich musste ihr auf den Grund gehen.
    Ausnahmsweise schien die Sonne, eine grelle, klare Helligkeit, sogar mit einer Andeutung von Wärme, und ich konnte die Bäume und Büsche riechen, ihren seidigen Atem, als wären sie selbst überrascht: hier war er endlich - ein echter Frühlingstag. Am Rand des Rasens streckten Osterglocken ihre gelben Köpfe zwischen den zurückgeschnittenen Ranken des Gebüschs hervor, das bereits nachwuchs. Mr. Ali war da, er stand auf einer Leiter an der Hauswand und strich Mrs. Shapiros Schlafzimmerfenster. Er summte vor sich hin. Wonder Boy, der auf einem der weißen Plastikstühle im Garten saß, den Schwanz um die Pfoten geschlungen, überwachte ihn.
    »Hallo, Mr. Ali!«, rief ich. »Ist alles in Ordnung?«
    Er stieg von der Leiter und wischte sich die Hände an einem Lumpen ab, den er aus der Tasche seines blauen Nylonoveralls zog. »Hallo, Mrs. George. Schöner Tag!«
    Erst jetzt merkte ich, dass Wonder Boy nicht Mr. Ali überwachte, sondern ein Drosselpärchen, das fleißig dabei war, im Efeu auf einer der Eschen sein Nest zu bauen. Ich sah zu, wie sie hin und her flogen und Moosstückchen und trockenes Gras anschleppten. Auch Wonder Boy sah zu, und seine Schwanzspitze zuckte.
    »Morgen leihe ich Lieferwagen, und wir nehmen Mrs. Shapiro mit, Farbe für Schlafzimmer aussuchen.«
    »Das ist schön.«
    »Wie geht es Ihrem Sohn?«
    »Ganz gut, aber ...« Ich zögerte. Ich dachte an Bens wächsernes Gesicht, an die Angst in seinen Augen. Er war ohne Abendessen ins Bett gegangen. Ich hatte an seine Zimmertür geklopft, doch er hatte von innen abgeschlossen. Ich begann langsam daran zu zweifeln, dass es sich noch um normales Teenagerverhalten handelte, aus dem er herauswachsen würde.
    »Mr. Ali, das Foto im Flur - das von Lydda. Haben Sie es abgenommen?«
    »Lydda.« Er steckte den Pinsel in eine Terpentindose und rührte darin herum. »Früher war die Stadt berühmt für ihre

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