Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
Vom Netzwerk:
Beinen.
    »Geh«, sagte seine Mutter zu ihrem älteren Sohn Tarik. »Geh voraus und such nach Wasser. Vielleicht gibt es da oben ein Dorf mit einem Brunnen.«
    Doch es gab kein Wasser. Entlang des Wegs wurden die Menschen vor Durst und Erschöpfung ohnmächtig. Vor sich auf der Geröllhalde entdeckte Tarik eine Frau, die unter dem Gewicht eines riesigen Bündels wankte. Es sah aus, als würde sie zwei Wassermelonen tragen; und er dachte, wenn sie sie fallen lässt, nehme ich sie und bringe sie meiner Mutter. Doch als er näher kam, sank die Frau zu Boden, und er sah, dass es zwei Babys waren.
    »Hilf mir, Bruder«, flehte sie. »Meine Jungen sind zu schwer für mich. Ich kann sie nicht tragen.«
    Der Junge zögerte. Er war erst vierzehn, und er musste sich schon um seine Mutter und Schwestern kümmern; doch es war klar, dass die Frau es nicht allein schaffen würde.
    »Nimm nur einen«, sagte sie mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.
    Tarik sah die beiden Babys an. Sie sahen schrecklich rot und zerknittert aus, die Augen im Licht zusammengekniffen. Wie konnte er einen auswählen? Dann bewegte sich einer der beiden und öffnete seine funkelnden dunklen Augen, die direkt in seine zu blicken schienen. Als die Frau sah, wie er zögerte, wickelte sie das Baby in ihren Schleier und legte es ihm in die Arme.
    »Geh. Warte nicht auf mich. Geh. Wir sehen uns in Ramallah wieder.«
    Mr. Ali verstummte. Ich blickte in den grünen, sonnenhellen Garten mit den geschäftigen Drosseln und den prallen Osterglocken, doch auf meiner Wange spürte ich den Wüstenwind, und alles, was ich sah, waren trockenes Geröll und Dornenbüsche.
    »Das waren Sie? Das Baby in dem Bündel?«
    Er nickte.
     
    Eine Tür ging auf, und aus dem Innern des Hauses hörte ich den süßen Singsang arabischer Musik und das laute Schnarren des Fernsehers. Dann tauchte auf der Schwelle Mrs. Shapiro in ihrem Chenillebademantel und den
König-der-Löwen-
Hausschuhen auf.
    »Trinken Sie einen Kaffee mit uns?«
    Mr. Ali antwortete nicht. Seine Augen blickten ins Leere.
    »Ich heiße Mustafa«, sagte er leise. »Das bedeutet der Auserwählte. Mein Bruder Tarik hat mir die Geschichte erzählt.«
    Ich wollte ihn berühren, seine Hand nehmen oder den Arm um ihn legen, doch es war etwas so Reserviertes, Verschlossenes an ihm, dass ich mich zurückhielt.
    »Hat er Ihnen erzählt, was aus dem anderen Baby geworden ist?«, fragte ich.
    Mr. Ali schüttelte den Kopf. »Er hat mir nur erzählt, dass der Soldat, der hat den Bräutigam erschossen, eine Tätowierung auf dem Arm hatte - eine Nummer.«
    Mr. Alis Geschichte hing wie ein Schatten über mir, und ich konnte dem fröhlichen Geplauder am Kaffeetisch nicht folgen. Ein paarmal fing ich seinen Blick auf, und ich wollte ihn fragen, was aus den al-Alis geworden war; ob sie es alle nach Ramallah geschafft hatten und ob er, Mustafa, seine Mutter und seinen Zwillingsbruder je wiedergefunden hatte. Doch im Herzen kannte ich die Antwort bereits.
    Außerdem bedrückte mich die Geschichte von dem Soldaten mit der tätowierten Nummer auf dem Arm - was war in ihm vorgegangen, als er den jungen Bräutigam erschoss? Wie kam es, dass ein Jude, der das Konzentrationslager in Europa überlebt hatte, mit solch beiläufiger Grausamkeit gegen die unglücklichen Zivilisten seines Gelobten Landes vorging? Dann fing ich an, über Naomi nachzudenken - als sie sich in Lydda unter dem Torbogen fotografieren ließ, wusste sie da nicht, was an dieser Stelle erst zwei Jahre zuvor geschehen war? Oder wusste sie es und hielt es für den notwendigen Preis?
    »Woran denken Sie, Georgine?« Mrs. Shapiro tätschelte mir die Hand. »Ist es Ihr fortgelaufener Ehemann, Darlink? Keine Sorge, ich habe einen Plan.«
    »Nein. Ich denke darüber nach ... wie schwer es ist, zusammen in Frieden zu leben.«
    Sie bedachte mich mit einem schiefen Blick. »Ach, das ist zu ernst.« Dann zündete sie sich und Nabil eine Zigarette an. »Genießen wir lieber diesen glücklichen Tag.«
     
    Nach dem Kaffee ging ich nach Hause. Die Sonne schien immer noch, und Wonder Boy saß immer noch geduldig unter dem Drosselnest. Mr. Ali stand wieder oben auf der Leiter. Im Haus klapperte Nabil mit dem Geschirr und hörte Musik, Ismael war beim Staubsaugen. Eine Brise von Westen spielte mit den Spitzen der jungen Bäume und ließ die Osterglocken tanzen. Doch ich musste immer wieder an die Zwillinge in ihrem Bündel denken, schwer wie Wassermelonen - an den einen, der

Weitere Kostenlose Bücher