Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
Vom Netzwerk:
Nathans Tati und Mr. Ali sahen sich den Riss aus der Nähe an, rieben sich das Kinn und liefen mit nachdenklicher Miene auf und ab, wie die Männer im Baumarkt.
    »Es gibt neue hochleistungsstarke, schnell aushärtende Schaumfüllmittel aus sogenannten Copolymeren, die im Bau zum Einsatz kommen ...«, begann Nathan zögernd.
    »Aber das repariert nicht eigentliches Problem.« Mr. Ali kratzte sich am Kopf. »Zuerst wir müssen rausfinden, was Ursache ist. Vielleicht ist Baum ...«
    Sie sahen sich die kaputten Dielen unter der gebrochenen Fußleiste an. »Wir könnten den Baum fällen, die Wurzeln ausgraben und das Loch mit Polymerschaum füllen«, schlug Nathan vor.
    »Beton ist vielleicht besser«, sagte Mr. Ali. »Aber schade, so schöne Baum zu fällen.«
    »Vorsicht«, raunte Nathans Tati Mrs. Shapiro zu, die herübergekommen war, um sich die Sache anzusehen. Er legte eine Hand auf ihre Schulter und ließ sie dort.
    »Was meinen Sie, Mrs. Shapiro? Sollen wir den Baum fällen?«, fragte Ms. Baddiel.
    Mrs. Shapiro setzte eine gerissene Miene auf. »Nein. Ja. Vielleicht.« Ich erinnerte mich an ihre Korrespondenz mit der Stadtverwaltung. »Vielleicht steht er unter Naturschutz«, sagte ich. »Soll ich bei der Stadtverwaltung anfragen?«
    Alle schienen zufrieden mit dem Vorschlag. Während wir noch vor dem Riss standen und hineinstarrten, tauchte ein schmaler Katzenkopf zwischen den Dielen auf und Stinkerle kletterte in den Salon. Er duckte sich, musterte den Halbkreis menschlicher Beine, fand eine passende Lücke und rannte zur Tür.
    »Raus! Kleiner Pisske! Raus!«, rief Mrs. Shapiro und scheuchte ihn weiter, doch man sah ihr an, dass sie es nicht böse meinte. Inzwischen war sie von einer fröhlichen, fast übermütigen Stimmung erfasst; sie genoss die vielen Besucher, oder vielleicht einen der vielen Besucher im Besonderen. Sie schlenderte zum Flügel, hob den Deckel und klimperte ein paar Noten. Selbst die verstimmten Tasten schienen unter ihren Fingern zum Leben zu erwachen. Zu meinem Erstaunen begann sie ohne Noten das Torero-Lied zu spielen, das sie mit ein paar gebrochenen Akkorden und kleinen Trillern verschönerte, und Nathans Tati, der hinter ihr stand, sang in seinem wohltönenden Bariton dazu - er traf den Ton besser als das Klavier. Auch Nathan stimmte ein.
    Am Ende setzte sich Mrs. Shapiro zurück, faltete die knochigen beringten Finger und seufzte. »Die Hände machen nicht mehr, was sie sollen, nich wahr?«
    »Unsinn, Naomi«, sagte Tati, nahm ihre Hände und hielt sie fest.
    Dann gingen wir alle zurück in die Eingangshalle, um uns zu verabschieden. Nabil musste einen Kampf zwischen Mussorgski und Wonder Boy schlichten -trotz seiner anfänglichen Aversion gegen Katzenhaufen hatte er sich als großer Katzenfreund entpuppt. Mr. Ali redete leise auf Arabisch auf seinen Neffen ein und schloss ihn in seine Hamsterarme. Mrs. Shapiro trat zu mir und flüsterte mit einem Nicken zu Nathan: »Ist das Ihr neuer Freund, Georgine?«
    »Nicht
mein
Freund.
Ein
Freund.«
    »Das ist gut«, flüsterte sie. »Er ist zu
petit
für Sie. Aber ziemlich intelligent. Und sein Vater ist auch charmant. Zu schade, dass er zu alt für mich ist.«
     
    Nachdem alle fort waren, kehrten Mrs. Shapiro und ihre Betreuer zum Kaminfeuer zurück. Ich blieb allein in der Eingangshalle zurück, und erst jetzt fiel mir auf, dass das Foto von Lydda, das über dem Tischchen gehangen hattte, verschwunden war.
    Es steckte nur noch der Nagel in der Wand. Wer hatte es abgenommen? Während ich darüber nachdachte, hörte ich das Gartentor ins Schloss fallen. Ich dachte, jemand hätte etwas vergessen, und öffnete die Tür. Doch es war Mrs. Goodney, die in ihrer echsengrünen Jacke und den spitzen Schuhen über den Pfad gestöckelt kam und unter dem Arm einen wichtig aussehenden schwarzen Aktenkoffer trug. Hinter ihr kam ein dunkler, gedrungener Mann um die fünfzig in einem zerknitterten braunen Anzug, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Keiner von beiden lächelte. Etwas an seinem Blick war seltsam, seine Augen wirkten asymmetrisch.
    Mrs. Goodney blieb wie angewurzelt stehen, als sie mich in der Tür sah. Sie musterte mich einen Moment und ging dann weiter. Jetzt tauchte noch eine dritte Person auf dem Gartenweg auf, ein großer, hagerer junger Mann. Es war Damian, der junge Mann von Hendricks & Wilson, mit gegelten Haaren und einem Anzug, dessen Hosenbeine ein wenig zu kurz waren. Blaue Socken. Er sah sich um, betrachtete das Haus, ohne mir

Weitere Kostenlose Bücher