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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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Straßenrand. Alles um Terror zu erzeugen. So sind sie die Bewohner von Lydda losgeworden.«
    Manche suchten Schutz in der großen Dahmash-Moschee. Doch später in der Nacht hörten Nachbarn Gewehrfeuer aus dem Gebäude. Am nächsten Tag wurden in der Moschee 176 Leichen gefunden.
    Im Morgengrauen rannten die Soldaten von Haus zu Haus, schlugen mit den Gewehrkolben gegen die Tür und befahlen den Bewohnern, sofort ihre Häuser zu verlassen.
    »Geht! Geht zu König Abdullah!, riefen die Soldaten. Und sie meinten: Geht fort aus diese Land und überlasst es uns! Geht nach Jordanien! Flieht in irgendein arabisches Land, das euch aufnimmt! Sie haben nie davon gehört?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Erzählen Sie weiter.«
    Aus ihren Häusern vertrieben, nahm die verängstigte Bevölkerung alles, was sie tragen konnte, und floh. Die Familie al-Ali - Frauen und Kinder, der Vater war verschwunden - wurde aus ihrem Haus auf die Straße gezerrt und hatte nur wenige Minuten, ein paar Habseligkeiten zusammenzusuchen. Soldaten trieben sie in die Straßen und stießen mit dem Gewehrkolben zu, wenn sie zu langsam waren, oder schössen, wenn Widerstand geleistet wurde.
    »Wohin gehen wir?«, fragte die Mutter, die ihre Kinder in dem Chaos an sich drückte.
    Jemand sagte: »Sie bringen uns nach Jordanien«, ein anderer sagte: »Wir gehen nach Ramallah.«
    Sie wurden zum Stadtrand getrieben; die Soldaten schössen in die Luft, um ihnen Beine zu machen. »Lauft! Geht zu Abdullah in Jordanien!«
    Als sie eine Absperrung erreichten, wurden sie von Soldaten durchsucht, die ihnen ihre Besitztümer wegnahmen. Vor ihnen war einer ihrer Nachbarn, der gerade geheiratet hatte und seine Ersparnisse nicht hergeben wollte; vor den entsetzten Augen seiner jungen Ehefrau wurde er erschossen. Danach protestierte keiner mehr. Den al-Alis wurde ihr Geld weggenommen, der Goldschmuck, die Uhren, selbst die silbernen Kaffeebecher. Sie durften nur ein Bündel Kleider mitnehmen, Brot und Oliven und einen Beutel Orangen.
    »Lauft! Lauft!« Die Soldaten schössen über ihren Köpfen in die Luft. Doch die geteerte Straße war gesperrt, und sie mussten durch die stoppeligen, abgeernteten Felder nach Osten wandern.
    Inzwischen war Mittag, und die Hitze brannte; der Himmel war so blau und grell, dass er wie Lapislazuli schimmerte. In der Ebene kletterten die Temperaturen im Juli leicht auf vierzig Grad. Es gab keinen Schatten, nur ein paar dornige Büsche zwischen den Steinen. Jenseits der Ebene erhob sich ein langgestreckter Hügel, und sie konnten die elende Prozession ihrer Landsleute vor sich sehen, die in der Ferne dem steinigen Horizont entgegenstolperten.
    Mr. Ali hielt inne. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah mit zusammengekniffenen Augen in den Himmel, als wollte er so viel Helligkeit nicht hereinlassen.
    »Immer wenn ich an die Geschichte denke, wird mein Herz zu Stein.« »Erzählen Sie weiter«, sagte ich.
    Die al-Alis schlossen sich der Prozession über die Felder an, zuerst von Wut getrieben, mit forschen Schritten und zuversichtlich, dass es sich nur um eine vorübergehende Sache handeln konnte - bald würden die arabischen Armeen die Eindringlinge zurückschlagen und sie könnten in ihre Häuser zurückkehren. Doch nach ein paar Stunden, als sie einen Hang erklommen, nur um einen weiteren, noch steileren Hang vor sich zu sehen, begann ihr Mut zu schwinden. Die Frauen setzten sich mit dem Rücken zur Sonne, zogen sich den Schleier über den Kopf, um so ein wenig Schatten zu erzeugen, aßen Brot und Oliven und stillten ihren Durst mit Orangen. Sie hatten so wenig Wasser mitgebracht - wer hätte daran gedacht, Wasser zu tragen statt Silber und Gold? Um sie herum saßen weitere Familien, die zu erschöpft und ausgetrocknet waren, um weiterzuziehen, während andere die Habseligkeiten zurückließen, die sie nicht mehr tragen konnten, und sich unter der brennenden Sonne weiter den Hügel hinaufschleppten.
    Als sich der Tag dem Ende zuneigte, kamen sie in das kleine Dorf Kirbatha. Dort gab es einen Brunnen - aber keinen Eimer. Die Frauen nahmen ihre Schleier ab, knoteten sie zusammen und ließen sie hinunter in den kleinen schwarzen Kreis des Wassers. Dann zogen sie die Schleier wieder herauf und saugten das Wasser aus dem feuchten Stoff.
    Der dritte Tag des Marschs war der schlimmste. Die Sandalen der Frauen fielen bereits auseinander, und ihre Füße bluteten und waren geschwollen. Dornen und blaue Disteln rissen an ihren Röcken und

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