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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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stand daneben, das Ablaufdatum klar in Sicht. Ich rechnete schnell nach. Nur zwei Tage drüber. Ich hatte schon Schlimmeres gegessen. »... nur ein wenig.«
    Vorsichtig kostete ich den Kuchen. Er schien völlig in Ordnung. Ich nahm nur einen kleinen Tropfen Sahne, die ebenfalls in Ordnung war.
    »Mögen Sie das?«, fragte Mrs. Shapiro.
    »Ja, sehr. Wunderbar. Was ist es?«
    »Prokofjew.
Sinfonischer Gesang.
Warten Sie. Es wird noch besser.«
    Wieder änderte die Musik das Tempo. Sie wurde anmutig jubilierend; die ursprüngliche Melodie kehrte zurück, doch diesmal mit mehr emotionalen Tiefen und Höhen, als würde sie über ihren eigenen Schatten springen, sich über die Widersprüche und Auseinandersetzungen hinwegsetzen, über den schrecklichen Paukenwirbel und den aufwühlenden Krawall in eine neue Welt, eine glückliche Welt, wo alles wieder gut war, für immer und ewig. Tränen stiegen mir in die Augen, rollten mir schwer und warm über die Wangen.
    Die Musik verstummte, und es wurde still. Mrs. Shapiro betupfte sich mit der Serviette die Augen. Dann suchte sie in ihrer Tasche nach Zigaretten und Streichhölzern, zündete sich die nächste an und inhalierte mit einem tiefen Seufzer.
    »Wir haben hier in diesem Haus zusammengelebt und musiziert. Ich habe Klavier gespielt, er Geige. Wir haben so große Musik zusammen gespielt. Jetzt bin ich hier allein. Aber das Leben geht weiter, nich wahr?«
    Ich spürte, dass mir wieder die Tränen kamen. Wie viel besser wäre es, dachte ich, zu lieben und geliebt zu werden, bis dass der Tod einen schied, und selbst über den Tod hinaus, als zu spüren, wie die Liebe verschrumpelte und abstarb, während das Leben um einen herum weiterging, trostlos und ohne Liebe. Zum Teufel, da war es wieder, mein verspritztes Herz.
    »Warum weinen Sie, Georgine? Haben Sie auch jemanden verloren?«
    »Ja. Nein. Es ist nicht dasselbe. Mein Mann ... er hat mich verlassen, das ist alles.«
    »Aber Sie sind noch jung, Sie finden einen anderen.«
    Ich wischte mir die Tränen ab und lächelte. »Wenn es so einfach wäre.«
    »Darlink, ich werde Ihnen helfen.«
     
    Das Nächste, woran ich mich erinnere, ist, wie ich mich vor meiner eigenen Haustür übergab. Ich trug immer noch das grüne Kleid, darunter die Jeans, den Pullover und den Fledermausmantel darüber. Mir war schrecklich schlecht. In meinem Kopf pochte es, und mir wurde mit einer beängstigenden Heftigkeit abwechselnd glühendheiß und eiskalt. Über mir drehten sich die Sterne am schwarzen Himmel. Ich kniete auf den steinernen Stufen und übergab mich noch einmal. Dann spürte ich etwas Warmes, Pelziges neben mir. Es war Violetta. Sie musste mir nach Hause gefolgt sein. »Hallo, Katze.« Ich streichelte sie, und sie streckte sich und schnurrte und rieb sich an mir. Dann fing sie an, das Erbrochene von der Türschwelle zu lecken.
     

6 - Klebriges braunes Zeug
    Am Sonntagmorgen nach dem Abend bei Mrs. Shapiro wachte ich gegen zehn Uhr auf. Ich hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund, und eine Schüssel mit einer schleimigen Flüssigkeit stand neben dem Bett. Anscheinend hatte ich mich in der Nacht noch weiter übergeben, doch ich erinnerte mich nicht. In meinem Kopf hämmerte es. Ein Sonnenstrahl schoss durch den Spalt zwischen den Vorhängen wie ein Meißel, der mein Gehirn zu spalten versuchte. Ich stand auf und zerrte an den Vorhängen herum, doch kaum war ich auf den Beinen, wurde mir schwindelig und ich ließ mich wieder ins Bett fallen. Die Zimmmerdecke über mir schien sich vor und zurück zu bewegen wie bei einem Erdbeben. Ich zog mir die Decke über den Kopf, aber davon bekam ich Beklemmungen. Wovon hatte ich geträumt? Ein Bild von Menschen, die zusammengebunden waren und in eine Grube gestoßen wurden, um lebendig begraben zu werden. Ein Alptraum. Nein, schlimmer als ein Alptraum - es war wirklich geschehen.
    Ich taumelte ins Bad und trank kaltes Wasser aus dem Hahn, dann wusch ich mir das Gesicht und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Das Licht war zu grell. Ich suchte in der Schublade nach etwas, womit ich mir die Augen bedecken konnte, und fand eine schwarze Unterhose; ich zog sie mir über den Kopf wie eine Kapuze. Der Gummibund reichte mir genau bis zur Nasenspitze. Dann legte ich mich wieder ins Bett und ließ mich von der Dunkelheit einhüllen. So war es besser. Wenn Rip dagewesen wäre, hätte er gelacht. Wenn Rip dagewesen wäre, hätte er mir eine Tasse Tee gemacht und mich getröstet. Ich erinnerte mich an die

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