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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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seinem Schreibtisch und erfüllte das Haus mit seinen Hirnströmen. Wir wechselten uns beim Kochen ab. Es gab zwei Teams: Rip und Stella, die hauptsächlich Thai-Currys kochten, und Ben und mich, die hauptsächlich italienisch kochten. Dann verkündete Ben eines Tages, er sei Vegetarier geworden, und wir verbrachten Ewigkeiten damit, Rezepte anzupassen und auszutüfteln. Einmal erwischte ich ihn, wie er tief in ein Buch versunken am Tisch saß - mit der gleichen Konzentration, mit der er die Bibel gelesen hatte, doch es stellte sich heraus, dass es ein Kochbuch war:
Hundert Rezepte, um den Planeten zu retten.
Sein knochiger Schädel war unter den nachwachsenden braunen Locken verschwunden, die er mit einem roten Tuch zurückhielt.
    Der Neurologe hatte Ben geraten, sich einen neuen Bildschirmschoner zuzulegen, und ihn vor animierten Seiten gewarnt. Er empfahl einen Flachbildschirm, der anscheinend mit einer anderen Frequenz lief, und Ben sollte sich nicht zu dicht vor den Fernseher setzen. Wir wachten ängstlich darüber, ob sein Zustand ohne Medikamente stabil blieb, oder ob er doch Antiepileptika schlucken müsste.
    Rip und ich entwickelten eine Technik, den gleichen Raum zu bewohnen und einander trotzdem aus dem Weg zu gehen. Wir teilten das Haus nicht direkt auf, aber wir lernten die Gewohnheiten des anderen auswendig und vermieden unnötigen Kontakt. Es war kein wirklich freundschaftlicher Umgang, aber auch kein feindlicher. Manchmal, auf Stellas Beharren, sahen wir alle zusammen fern.
    »Versucht einfach
normal
zu sein, okay?«, coachte sie uns.
    Rip und ich saßen in den Sesseln zu beiden Seiten des Kamins, mit entschlossen normalen Gesichtern, während Ben und Stella sich auf dem Sofa lümmelten, Arme und Beine lässig ineinander verschränkt. Von Zeit zu Zeit ging ein Gekabbel los, und einer versuchte den anderen hinunterzuschubsen.
    An Ostern fuhren wir weder nach Kippax noch nach Holtham. Wir blieben zu Hause, und Rip und ich probten vorsichtig ein gemeinsames Projekt, indem wir eine Ostereierspur für Ben und Stella durchs ganze Haus legten. Sie amüsierten sich bestens und taten dabei so, als wären sie überrascht. Im Hintergrund lief das Radio, und irgendwann hörte ich einen Kirchenchor mit schrecklich greinenden Stimmen, der die Osterhymne sang.
Auf einem grünen Hügel, weit von hier... dort hing er und litt.
Schnell schaltete ich das Radio ab. Warum sollten wir uns von diesen deprimierenden, uralten Geschichten unser schönes Familienfest vermiesen lassen?
     

43 - Wasserkresse
    Am Dienstag nach Ostern ging ich in den türkischen Supermarkt um die Ecke und kaufte ein großes Osterei, das um fünfzig Prozent reduziert war. Es war ein hässliches Ding in lila Folie, auf der mit Strahlenkanonen bewaffnete Space-Invaders-Krieger abgebildet waren. Irgendjemand musste so etwas für ein passendes Ostergeschenk für kleine Jungs gehalten haben - und vielleicht passte es sogar auf surreale Weise zur neuen Realität im Heiligen Land -, doch wenigstens waren keine Eltern so unkritisch gewesen, es zu kaufen, es war das einzige Ei, das noch im Regal lag. Vorsichtig zog ich den SONDERPREIS-Aufkleber ab, verpackte das Ei in Seidenpapier und machte mich auf den Weg zu Canaan House. Es war ein frischer kalter Tag, und einzelne Sonnenstrahlen fielen durch die Lücken in den zerrissenen Wolken. An den jungen Eschen im Garten von Canaan House waren kleine helle Knospen aufgeplatzt, als wären sie über Nacht aufgetaucht, und die weißen Plastikgartenmöbel strahlten einladend.
    Niemand kam an die Tür, als ich klingelte. Ich bückte mich und spähte durch den Briefkastenschlitz. Keine Spur von menschlichem Leben, nur zwei Katzen, die in dem Kinderwagen unter der Treppe dösten. Ich meinte am Ende des Flurs eine Bewegung wahrzunehmen, und dann entdeckte ich etwas Erschreckendes - aus einem Riss in der Decke schien Wasser zu tropfen und sich in einer Pfütze auf dem Boden im Flur zu sammeln. Einen Moment später tauchte Chaim Shapiro in Hemdsärmeln auf. Ich klingelte wieder, doch er reagierte nicht, sondern musterte den tropfenden Riss in der Decke, rief etwas in den hinteren Teil des Hauses, dann verschwand er wieder die Treppe hinauf. Aus dem Tröpfeln war ein Rinnsal geworden. Plötzlich tauchten Nabil und Mr. Ali auf, Beine zuerst, rannten die Treppe hinunter und schrien einander an. Ich klingelte wieder, und Mr. Ali kam und öffnete die Tür. Ich dachte, er wollte mich hereinlassen, doch er stürmte einfach an mir

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