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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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menschlichem Trost.
    Lily ließ sich in Golders Green nieder, heiratete, verlor ihren Mann an den Krieg.
    »Da hat sie zu rauchen angefangen«, sagte Charlie. »Hat gequalmt und gequalmt, als wollte sie so schnell wie möglich in den Himmel.«
    Er schnäuzte sich wieder und sah auf. »Verehrte Damen und Herren, ich bitte Sie jetzt, für die Seele von Lillian Brown zu beten. Möge sie von nun an mit den Engeln tanzen.«
    Wir standen auf, und jetzt spielte die Musik wieder, Ba-doop-a-doop-a! Ba-doop-a-doop-a! Dann wurde der Sarg auf rasselnden Rollen durch die Holztür geschoben. Ich dachte an die alte Frau, die ich nur als die Übergeschnappte kannte,
    versuchte ihr Bild heraufzubeschwören, während ihr Sarg davonrollte, und trotz der fröhlichen Musik kamen mir die Tränen. Welche grausamen Streiche die Zeit uns spielte! Vor den Zigaretten und den verkrusteten Zehennägeln, vor den tiefen Falten und dem zerknautschten Geist hatte es eine andere Mrs. Brown gegeben -eine junge Frau, die als Tänzerin bei einer der besten Shows in London auftrat, das Leben auskostete und einer Giraffe in den Hintern treten konnte.
    Ba-doop-a-doop-a! Ba-doop-a-doop-a! Ms. Baddiel und Nathan und Nathans Tati schunkelten zur Musik und wedelten mit den Taschentüchern, die Ms. Baddiel verteilt hatte. Die Nichte und Charlie Watkins schluchzten und hüpften, und auch meine Füße bewegten sich in dem unwiderstehlichen Rhythmus. Nur Mrs. Shapiro stand stocksteif da, mit dem Rücken zu mir, so dass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte. Plötzlich drückte ein Luftzug die Schwingtür auf, hinter der der Sarg verschwunden war, und - ich schwöre, ich denke mir das nicht aus - ein Rauchwölkchen schwebte zu uns in die Kapelle heraus, drehte sich tanzend vor unseren Augen und formte sich zu einem Rauchring, bevor es sich auflöste.
    Die Sonne stach uns in die Augen, als wir hinaus in den »Garten der Ruhe« traten und als trauriges Grüppchen zwischen den Beeten entlanggingen. Mrs. Shapiro zündete sich eine Zigarette an und setzte sich heftig qualmend auf die Bank, als wollte sie ihrer störrischen Rauchkumpanin damit die letzte Ehre erweisen. Ich ging weiter und las die Namen auf den Gedenkplaketten an den Mauern - es waren so viele. Manche Namen kannte ich - Enid Blyton, Peter Seilers, Anna Pavlova, Bernard Bresslaw (Mamas Lieblingsschauspieler), H. G. Wells (einer der Gurus meines Vaters), Marc Bolan (so jung gestorben!) und daneben Hunderte von unbekannten Toten, die alle um ein wenig Erinnerungsraum rangelten. Bald sind wir alle Unbekannte, dachte ich, außer für die, die uns kannten, bis auch sie zu Unbekannten werden.
    Beerdigungen hatten so etwas an sich - selbst wenn man den Verstorbenen kaum kannte, stimmte einen die Nähe des Todes melancholisch. Ich dachte an die Leute, deren geheimnisvolle Leben meines gestreift hatten - die schöne Lily Brown, bevor sie nur noch die Übergeschnappte war; Mustafa al-Ali, der Auserwählte,
    dessen unbekannter Zwillingsbruder in den Hügeln gestorben war; Artem Shapiro, der die Arktis durchwandert hatte; Naomi Shapiro mit den feurigen Augen; und die alte Dame, die ich bei mir Naomi Shapiro nannte, auch wenn sie in Wirklichkeit jemand anders war. Waren sie alle außergewöhnliche Menschen, oder war es ihre Zeit gewesen, die sie außergewöhnlich machte? Und hatte unsere sichere Nachkriegswelt dem Leben den Glanz und das Heldentum genommen (schluchz) und uns nur die Spelzen gelassen (schluchz) - Konsumartikel in schicken Verpackungen (schluchz, schluchz)? Das Taschentuch, das mir Ms. Baddiel gegeben hatte, war inzwischen vollkommen durchweicht. Blind vor Tränen stolperte ich über eine Stufe, schlug mir den Zeh an und fiel fast in den Teich.
    Charlie Watkins hielt sich am Arm seiner Tochter fest, und sein großer, schlaksiger Körper bebte mit jedem Atemzug. Ich wollte ihn fragen, was aus dem Baby geworden war - hatte sie es abgetrieben oder zur Adoption freigegeben? Ich wollte mehr über Mister Brown erfahren - war er es, der Lily nach Golders Green gebracht hatte? Hatte er sie geliebt? War er bis zum Ende bei ihr geblieben? Doch Charlie hatte seinen Zettel wieder in die Tasche gesteckt, und in seinen Augen standen Tränen. Er zeigte hinauf zum Schornstein, wo sich eine dünne Rauchfahne zu einem perfekten Rauchring formte, im Wind erzitterte und verschwand. »Dort fliegt sie! Unser Engel!«
    Huiii! Plötzlich hing ein hohes Pfeifen in der Luft wie das Flattern von Engelsflügeln. Wir blieben stehen und

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