Das Leben kleben
Jaffa.«
Aus irgendeinem Grund war mir bis jetzt gar nicht klar gewesen, dass Nathan wahrscheinlich auch Jude war. Die Sache ist die, dass in Kippax jeder einfach nur aus Kippax ist. Mr. Mazzarella, der den Imbiss hatte, und seine Frau, die den Eiswagen fuhr, waren die einzigen exotischen Menschen in der Stadt.
»Nein, aber ich besuche ab und zu eine ältere jüdische Dame in der Nachbarschaft. In ihrem Flur hängt ein altes Foto von Lydda.« Am anderen Ende der Leitung war es still. »Ich dachte erst, es wäre eine Person. Ich habe nicht gleich verstanden, dass es ein Ort ist«, murmelte ich. »Das ist alles.«
»Du dachtest, Lydda wäre ein Frauenname? Wie Georgia?«
»Du weißt doch, dass Geographie nicht meine Stärke ist.«
Irgendwie hatte ich es wieder geschafft, mich zu blamieren. Aber während ich es sagte, kam mir eine andere Frage - warum eigentlich hatte Mrs. Shapiro ein Foto von Lydda an der Wand?
»1972 gab es dort einen Anschlag. Drei japanische Terroristen haben am Flughafen einen Haufen Leute erschossen. Vielleicht hast du davon gehört«, sagte Nathan.
Ich versuchte mich zu erinnern. 1972 war ich zwölf Jahre alt gewesen. Gerade neu auf die Gesamtschule gekommen. Es musste eine dieser Tragödien an fernen Orten gewesen sein, die über den Fernsehbildschirm flackerten und nach einem Tag vergessen waren - und weniger Kummer in mir auslösten als der Tod von Lionheart, dem Schulhasen.
»Warum haben sie das getan?«
»Sie wollten zwei palästinensische Flugzeugentführer rächen, die von den Israelis erschossen worden waren.«
Ich schaltete innerlich ab. Palästinenser und Israelis, die einander umbrachten -eine alte, unbegreifliche Feindschaft. Unbegreiflich wie die von Wonder Boy und Violetta. Das Problem anderer Leute, nicht meins.
28 - Der Greuel
Am nächsten Tag wartete ich auf eine Regenpause, um rüber zu Canaan House zu flitzen und meine Katzenpflichten zu erledigen. Sie waren alle da, warteten, umringten mich und schnurrten. Es war schön, so warm und pelzig willkommen geheißen zu werden, obwohl ich wusste, dass sie nur ihr Futter wollten - dass es keine wahre Liebe war. Vielleicht waren echte Gefühle gar nicht so wichtig - vielleicht hätte ich, wenn Rip mir gegenüber nur ein bisschen wärmer und pelziger gewesen wäre, den Mangel an Gefühlen verkraften können.
Ich fütterte sie in der Küche und wollte gleich wieder abschließen und gehen, doch es hatte erneut zu regnen angefangen, mit dicken schweren Tropfen, die den nächsten Wolkenbruch ankündigten. Ich hätte laufen können, doch die Vorstellung, mich gleich wieder an die
Klebstoffe
zu setzen, war nicht sehr verlockend. Ich rechtfertigte mich damit, dass ich nachsehen musste, ob das Dach undichte Stellen hatte, und stieg hinauf auf den Dachboden. Im Gegensatz zum Rest des Hauses war das Dach erstaunlich gut in Schuss. Nur an der Vorderseite über dem Erkerfenster war eine Stelle, wo ein paar Dachziegel fehlten und Wasser hereintropfte. Ich suchte im Gerumpel nach einem Behälter, um das Wasser aufzufangen, und fand einen hübschen Viktorianischen Nachttopf mit blauem Irismuster, so ähnlich wie das Muster im Bad.
An der Decke im Turmzimmer waren keine feuchten Stellen zu sehen. Ich setzte mich in den blauen Sessel, um zu warten, bis der Regen nachließ, und tastete in der Ritze nach dem Babyfoto. Es war noch da. Ich zog es heraus und betrachtete es. Mrs. Sinclair hatte einmal, kurz nach Stellas Geburt, gesagt, dass alle Babys gleich aussähen. Damals war ich empört gewesen; doch jetzt, als ich das zerknickte Foto des kahlen zahnlosen Babys betrachtete, musste ich zugeben, dass sie recht hatte. Nur die hübschen dunklen, weit auseinander stehenden Babyaugen waren besonders. Ich sah sie an, und etwas, das ich vor langer Zeit im Biologieunterricht gelernt hatte, fiel mir wieder ein: das Gen für braune Augen war dominant, das für blaue Augen rezessiv. Das Baby musste also mindestens einen braunäugigen Eltern teil gehabt haben. Mrs. Shapiros Augen waren blau. Und Artem Shapiros Augen auch.
Jetzt wurde ich richtig neugierig. Mit den Fingern tastete ich die Sesselritze ab. Ich fand eine Menge Flusen, Katzenhaar und gemischte Krümel, die unter meinen Fingernägeln hängen blieben. Dann endlich stieß ich an der linken Armlehne auf etwas, das sich wie Papier anfühlte. Es konnte nicht versehentlich dort gelandet sein - jemand musste es versteckt haben. Mit einer Hand drückte ich das blaue Polster weg, während ich
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