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Das Leben kleben

Das Leben kleben

Titel: Das Leben kleben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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seinen braunen Lockenschopf hob sich der dunkle Flaum auf seiner Oberlippe und am Kinn noch stärker gegen seine bleiche Haut ab. Er sah aus wie ein Fremder - ein Fremder, der sich als jemand ausgab, den ich gut kannte.
    »Aber das sind doch Verrückte, Ben, die Leute, die diese Webseiten einrichten.«
    Ich hätte meinen Ärger nicht zeigen dürfen. Seine Stimme wurde defensiv.
    »Ja, okay, ein paar von denen sind vielleicht ein bisschen durchgeknallt. Aber die Typen, die die Welt regieren - sie wissen alle, was bevorsteht? George Bush und Tony Blair? Warum glaubst du, gehen sie sonst die ganze Zeit zusammen beten? Warum glaubst du, sind sie so besessen vom Nahen Osten? Warum regen sie sich so auf, dass der Iran Atomkraft hat? Die wissen genau, dass es die Prophezeiung der Wiederkunft ist, die unsere Zeit bestimmt? Wir sind die letzte Generation?«
    Er klappte zwei Toastseiten zu einem Sandwich zusammen und leckte die Erdnussbutter ab, die an den Kanten herausquoll.
    »Willst du wissen, warum Amerika Israel unterstützt? Weil in der Bibel steht,
    wenn Gottes auserwähltes Volk zurück ins Gelobte Land zieht, wie 1948, ist das der Anfang der Endzeit.« Er biss krachend in seinen Toast. »Und die traurigen Fälle wie du und Dad, die bleiben zurück.« »Wo zurück?«
    »Die Entrückung? Die Wiederkunft? Wenn die Auserwählten in den Himmel kommen, und die ganzen Jammergestalten mit ihrem
Guardian
und den Antikriegsplakaten zurückbleiben, um in der großen Trübsal zu versinken.« Marmelade war auf den Teller getropft. Er leckte sie ab. »George Bushs Kumpel Tim LaHaye hat ein Buch geschrieben,
Leben wir in der Endzeit?
Da steht alles drin.«
    »Nur weil George Bush daran glaubt, heißt das nicht, dass es stimmt.«
    »Okay, aber vielleicht wissen die Typen was, was du nicht weißt? Wahrscheinlich haben sie mehr Informationsquellen als du hier? Die Webseite hat fünf Millionen Besucher?« Er sah mich mit einem Blick an, der gleichzeitig wütend und mitleidig war. »Sei doch nicht so blind, Mum.«
    Dann trank er einen Schluck Wasser, griff abrupt nach seiner Tasche und der Bibel und stapfte nach oben in sein Zimmer. Als er die Treppe hochlief, sah ich seinen blassen Schädel auf und ab hüpfen.
    Ich hatte einen Knoten im Magen. Ich trank meinen Tee aus und ging hinauf ins Schlafzimmer. Dann setzte ich mich mit einem Kissen im Rücken aufs Bett und klappte den Laptop auf. Gegen das regenverwaschene Licht vor dem Fenster wirkte der blaue Himmel im Bildschirmhintergrund absurd optimistisch. Ich tippte
Endzeit
bei Google ein, wie Ben es gesagt hatte. Da waren buchstäblich Hunderttausende von Einträgen. Willkürlich klickte ich ein paar davon an, folgte den Links, und plötzlich stellte ich fest, dass ich die Schwelle zu einer unheimlichen Parallel weit überschritten hatte, von der ich nicht einmal geahnt hatte, dass sie existierte. Ben hatte recht - es waren Millionen von Menschen da draußen, die ihre Bibel durchkämmten und anhand der Hinweise im Text den genauen Fahrplan des Zeitenendes zu errechnen versuchten.
    Zuerst war ich indigniert. Warum hatte ich im
Guardian
nichts darüber gelesen?
    Oder bei der BBC im Radio davon gehört? Warum hatte Rip mir nichts gesagt? Dann bekam ich Angst. Manche Webseiten hatten grotesk klingende Namen wie
dedwwwsk
(Das Ende der Welt wie wir sie kennen) oder bereitfuerdieendzeit.com
.
Millionen von Menschen machten sich anscheinend schon bereit. Die Prophezeiungen von Daniel und Hesekiel im Alten Testament wurden wieder und wieder zitiert in unendlichen Blogs von Leuten, die ihre persönliche Interpretation der Prophezeiungen ins Netz stellten, auf riesigen komplexen Seiten mit Links zu Dutzenden von Organisationen. Es gab sogar Seiten, auf denen »Endzeitprodukte« vermarktet wurden. Ein Link führte zu einem Zitat aus einer Rede von George Bush: »Wir leben in einer Zeit, die anders ist.« Das Zitat war rot unterlegt und mit grässlichen kleinen Flammen, scharf wie Rasierklingen, animiert. Ein anderes war mysteriöserweise mit einer Seite verlinkt, die den Titel hatte: »Hilfe bei Selbstbräuner-Flecken«.
    Allein in meinem dämmrigen Zimmer, beim periodischen Schnurren des Laptop Ventilators, mit den gruseligen Fundamentalisten als Führern spürte ich, wie die Grenzen der Vernunft verschwammen und Ideen aus dem irrationalen Hinterland in mein Bewusstsein eindrangen. War es das, was Ben fühlte? Ich erinnerte mich an meinen Traum, an diesen gestaltlosen bösen Geist, und

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