Das Leben kleben
zwei Finger tief genug hineinschob, dass ich eine Kante zu fassen bekam. Es war ein Brief, wie eine Ziehharmonika zusammengefaltet, auf dem gleichen dünnen Papier geschrieben wie der, den ich im Klavierhocker gefunden hatte.
Kefar Daniyyel, 26. November 1950
Mein liebster Artem,
ich schreibe Dir mit wundervollen Neuigkeiten. Am 12. November kam unser Baby zur Welt, ein kleiner Junge. Jeden Tag sehe ich zu, wie er schöner wird und seinem Vater ähnlicher. Er hat Dein Gesicht, Arti, und von mir die braunen Augen. Oft erzähle ich ihm von seinem Papa in London, und dann lächelt er und streckt die kleinen Händchen in die Luft, als verstünde er mich genau. Ich habe ihn Chaim genannt, nach unserem großen Präsidenten Chaim Weizmann. Eines Tages wird sein Vater zu uns kommen, das habe ich ihm versprochen. Warum kommst Du nicht, Arti? Warum schreibst Du nicht? Hast Du uns ganz vergessen? Wir warten so sehnsüchtig auf Dich, um Dich in unsere Liebe einzuhüllen. Mein Liebster, die Luft hier ist so gut und sauber, ich bin ganz sicher, dass sie Deiner Gesundheit nach der schrecklichen Luft in London guttun würde. Meine Freundin Rachel erwartet auch ein Baby. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie schön es ist, nach einem halben Jahrhundert des Todes von neuem Leben umgeben zu sein. Du wirst Dich unter den Olim wie zu Hause fühlen, die aus jedem Winkel der Welt die Alija gemacht haben. Viele hier in Daniyyel kommen aus Manchester und alle sprechen Englisch, auch wenn nun jeder wieder die alte Sprache lernen will.
In dieser roten Erde und diesen weißen Steinen, die wie die Knochen unserer Vorfahren in der Landschaft liegen, steckt so viel von der Geschichte unseres Volkes, manchmal stelle ich mir vor, wie die Geister unserer Ahnen abends bei uns am Hang sitzen und dem Sonnenuntergang und den ersten Sternen zusehen, die im Osten aufgehen. Endlich, nach all dem Leiden, haben sie Frieden. Wenn der Wind über den Hügel flüstert, klingt er wie die Stimmen unserer Toten, die den Kaddisch singen. Sechs Millionen Seelen sind heimgekehrt. Mein Lieber, ich denke immer noch an unser Haus in Highbury und an unsere glücklichen Abende am Klavier, und dann kommen mir die Tränen. Warum schreibst Du nicht?
Mit meiner ganzen Liebe, Naomi
Ich las den Brief wieder und wieder, während ich wartete, dass der Regen nachließ. Dann faltete ich ihn zusammen und schob ihn mit dem Foto zurück in die Sesselritze. Wer war Naomi? Sie musste die hübsche braunäugige Frau sein - die Mutter des Babys. Aber wer war dann die alte Frau in Northmere House? Wie passten die beiden Naomis zusammen?
Der Regen machte keine Anstalten nachzulassen: Das Wasser strömte über die Scheiben, als würde jemand den Gartenschlauch dagegenhalten. Es war fast etwas Apokalyptisches an diesem endlosen Wolkenbruch. War er eins der prophetischen Zeichen der Endzeit? Ben wusste das bestimmt. Ich sah auf die Uhr. Es war drei, er würde bald nach Hause kommen. Am Ende fand ich mich damit ab, dass ich nass werden würde, und rannte so schnell ich konnte.
Zu Hause angekommen wickelte ich mir ein Handtuch um die Haare, zog trockene Kleider an und setzte mich mit einem schlechten Gewissen an den Computer. Na schön. Konzentration. Klebstoff.
»Das Abbinden eines Klebstoffes bezeichnet den Übergang vom flüssigen in den festen Zustand.«
Die klebrige Wissenschaft konnte wirklich ziemlich langweilig sein. Vielleicht war es an der Zeit, einen neuen Roman anzufangen - einen Roman über eine ältere Dame, die mit sieben Katzen und einem Geheimnis in einer großen verfallenen Villa lebte. Aber ich schob den umstürzlerischen Gedanken fort und zwang mich zur Konzentration. Die
Klebstoffe in der modernen Welt
bezahlten unsere Miete. Doch noch etwas nagte an mir. Ben schien sich zu verspäten.
Als ich endlich den Schlüssel im Schloss hörte, klappte ich den Laptop zu und ging nach unten, um ihn zu begrüßen. Im Flur blieb ich wie angewurzelt stehen und schnappte nach Luft. Vor mir stand ein Fremder - ein glatzköpfiger Freak, der in mein Haus eingebrochen war.
»Hallo, Mum.« Er grinste verlegen und hängte seine nasse Jacke an den Haken. »Guck mich nicht so an.«
»Was ...?«
Seine Haare, die wunderschönen braunen Locken, waren fort. Sein Schädel war bleich und knubbelig und sah anstößig nackt aus. »Es ist sehr ...«
Er sah mir in die Augen. »Sag es nicht, Mum.«
Ich legte mir die Hand auf den Mund. Wir mussten beide lachen.
»Willst du ein paar
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