Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
kennenlernen sollte.
Pünktlich erschienen wir bei der dritten Frau unseres Vaters. Ihr Haus war nicht schwer zu finden. Sie wohnte an der großen Straße, die von Spring Valley nach Gigiri führt, einer schönen Gegend der Hauptstadt. Das Haus in Lavington hatte sie längst verkauft. Mit den Einnahmen hatte sie, so war mir erzählt worden, einen Kindergarten eröffnet.
Nachdem wir auf ihr Grundstück eingebogen waren, parkte ich meinen alten Käfer in der Kiesauffahrt. Noch bevor wir aus dem Auto gestiegen waren, stand Ruth schon an der Haustür, ein breites Lächeln auf dem Gesicht.
»Willkommen!«, sagte sie herzlich, als wir ausstiegen. Dabei schaute sie Barack freundlich an. »Und du musst Barry sein.«
»Barack«, korrigierte er. Ich wusste, dass mein Bruder es nicht mochte, wenn man ihn Barry nannte; einzig bei unserer Großmutter hatte er keinen Anstoß daran genommen.
»Komm rein, Rita«, sagte sie an mich gewandt. Obwohl ich ihr einige Male gesagte hatte, dass ich Auma genannt werden wollte, blieb sie bei Rita. Um keine Unstimmigkeiten aufkommen zu lassen, ließ ich es einfach geschehen.
An der Tür stand noch eine zweite Person. Es war aber nicht Mark, den ich seit seinem neunten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte, sondern Juliana, die Haushaltshilfe, die meine Stiefmutter mitgenommen hatte, als sie uns verließ. Ich begrüßte Juliana mit einem etwas reservierten Lächeln – zu viele Jahre waren vergangen, zu vieles war nicht geklärt, und zu vieles tat auch noch weh.
Kurz darauf standen wir in einem Wohnzimmer mit einem Esstisch, der bereits gedeckt war. Die Mitte des Raumes wurde von einer Sitzgruppe beherrscht, und neben Glastüren, durch die man auf eine Terrasse und in einen großen Garten gelangte, befand sich ein Klavier. Ich schaute aus dem Fenster und dachte an meinen einzigen Besuch in diesem Haus. Damals war ich zu Ruth gefahren, um an Opiyos Grab stehen zu können. Die Verwandten hatten mir gesagt, nur sie wüsste, wo er bestattet sei. Nach seinem Tod hatten sie gemäß der Luo-Tradition versucht, seine Leiche in Alego beizusetzen. Ruth aber hatte sich vehement dagegen gewehrt, obwohl sie nach altem Brauch eigentlich keine Entscheidungsbefugnis über Opiyo hatte. Dennoch war es ihr gelungen, über den Sohn zu bestimmen, den sie nur David genannt hatte. Sie ließ seine Leiche verbrennen – Luos kennen eine solche Bestattungsform nicht – und seine Urne bei sich im Garten begraben.
Ich blickte in jenen Gartenteil, wo ich meinem Bruder vor fast sechs Jahren Lebewohl gesagt hatte. Schade, dass Opiyo nicht bei uns ist, dachte ich. Er hätte sich so sehr über Baracks Kommen gefreut.
»Ich hole Mark«, sagte Ruth und verließ den Raum. Mein Bruder und ich schauten uns an, sagten aber nichts. Bestimmt hatte mein Blick verraten, dass ich die Situation äußerst befremdlich fand. Geduld, Geduld, schienen Baracks Augen zu antworten. Ich lächelte matt und wollte gerade eine spitze Bemerkung machen, als Ruth wieder das Zimmer betrat, gefolgt von einem jungen Mann mit Afrolook und trotzigem Gesicht.
»Das ist Mark«, verkündete sie stolz. Der Satz war an Barack gerichtet, der inzwischen auf dem Sofa Platz genommen hatte. Er erhob sich und sagte förmlich:
»Hi Mark. How are you?«
»Fine, thank you.« Marks Antwort war nicht minder förmlich. Es war deutlich zu spüren, dass der plötzlich aufgetauchte Bruder ihn nicht besonders interessierte. Er blieb vermutlich nur deswegen im Raum, weil seine Mutter es von ihm verlangte.
»Mark ist ein großer Pianist«, sagte Ruth, als wir uns alle hingesetzt hatten und uns gerade nichts mehr einfiel, was unseren Small Talk in Gang halten konnte. »Er soll etwas für euch spielen.«
»Komm Mark, spiel was«, bat sie ihn. »Die beiden freuen sich bestimmt.«
Mark sah nicht sehr begeistert aus. Aber als er erwiderte, dass wir sicher keine Lust hätten, uns etwas von ihm Vorgespieltes anzuhören, protestierten wir natürlich höflich. Ich fragte mich, ob ihn die Aufforderung seiner Mutter vielleicht ein wenig verlegen gemacht hatte. Doch bei der kurzen, steifen Unterhaltung mit Barack war er mir nicht schüchtern vorgekommen. Er hatte selbstsicher, fast arrogant gewirkt. Mark war nicht scheu. Er hatte nur keine Lust, vorgeführt zu werden.
Ich muss gestehen, dass er dem Klavier wunderschöne Klänge entlockte. Er spielte hervorragend. Als das Stück zu Ende war, applaudierte ich nicht nur, weil es sich gehörte, sondern weil ich wirklich
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