Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
beeindruckt war.
Mark stand vom Klavierhocker auf und nahm unsere Komplimente entgegen, als wären sie die selbstverständlichste Sache der Welt. Doch ohne Musik mussten wir uns wieder selbst um die Unterhaltung kümmern. Damit waren wir erneut dem Melodrama ausgesetzt, das ich inzwischen Das widerwillige Kennenlernen zweier Brüder genannt hatte.
In diesem Augenblick erschien Juliana und fragte, ob sie das Essen servieren dürfe. Ruth stand auf und folgte ihr in die Küche. Sie sah zufrieden aus, kein Wunder bei den musikalischen Fähigkeiten ihres Sohnes.
Ob Ruths Söhne aus ihrer zweiten Ehe – sie hatte noch ein weiteres Mal geheiratet, einen Mann aus Tansania – mit uns zu Mittag aßen, weiß ich heute nicht mehr. Ich sehe nur Barack und Mark vor mir, die aus Respekt gegenüber Ruth versuchten, ein gewisses Interesse füreinander zu zeigen. Bevor wir uns kurz nach dem Essen verabschiedeten, drängte meine Stiefmutter die beiden noch, Adressen auszutauschen. So könnten sie doch in Amerika in Verbindung bleiben. Beide folgten ihrer Aufforderung, vermutlich im Wissen, dass wohl keiner den geschwisterlichen Kontakt fortsetzen würde.
»Was ich dir zuliebe nicht alles mache!«, stöhnte ich, als wir wieder im Auto saßen.
»Ist doch gut gelaufen, findest du nicht?« Barack grinste frech.
»Aber natürlich. Mark hier, Mark da. Hast du gehört, wie sie über unseren Vater geredet haben? Es war, als hätte er ihnen nie etwas bedeutet. Ruth kann ich noch verstehen, das heißt, verstehen kann ich ihre Haltung nicht wirklich, nur akzeptieren. Aber Mark? Was für einen Grund hat er? Außerdem ist er so von sich eingenommen!«
»Vielleicht ist er ein bisschen unsicher. Und unser Vater hat bei ihnen eben nicht gerade den besten Eindruck hinterlassen.«
»Immer diplomatisch. Typisch, dass du Marks Hochnäsigkeit als Unsicherheit interpretierst. Für mich war er einfach nur arrogant.« Ich wusste, dass ich Mark vielleicht Unrecht tat, aber ich konnte mir nicht helfen. Ich war einfach verärgert, dass er uns ohne jedes Gefühl der Freude oder Wärme empfangen hatte. Und nachdem ich während des Mittagessens nur Bemerkungen über meinen Vater vernommen hatte, die verächtlich klangen, war ich nicht bereit, ihm Wohlwollen entgegenzubringen. Heute denke ich, dass sich hinter Marks abweisender Fassade wohl so manches Unverarbeitete aus der Kindheit verbarg. Auch bei mir waren die Erinnerungen ja noch lebendig.
Bevor Barack und ich Ruth verließen, hatten wir im Garten Opiyos Grab aufgesucht. Keiner von uns hatte ein Wort gesprochen. Und in Gedanken hatte ich erneut bedauert, dass Opiyo nicht bei uns war. Vielleicht hätte er es geschafft, uns alle wieder zusammenzubringen.
Unsere komplizierte Familiensituation ließ bei Barack noch einen weiteren Wusch aufkommen: Er bat mich, ihn mit George bekannt zu machen, dem jüngsten Sohn unseres Vaters.
Da ich zu George und seiner Mutter Jael keine Verbindung mehr hatte, war mir deren neuer Wohnort auch nicht bekannt. Aber schließlich fand ich heraus, wo unser jüngster Bruder zur Schule ging. So beschlossen Barack und ich, dorthin zu fahren und ihn in einer Unterrichtspause kurz zu begrüßen.
Zunächst lief alles nach Wunsch. Wir suchten die Schulleiterin auf und erzählten ihr von unserem Anliegen. Sie bat uns, noch ein paar Minuten Geduld zu haben, gleich würde man zur Pause läuten. Sie zeigte uns die Tür zu Georges Klassenraum, davor, auf dem Flur, könnten wir auf ihn warten. Während sie wieder ihr Büro aufsuchte, muss die Direktorin aber noch einmal über unser Vorhaben nachgedacht und bei Jael angerufen haben, um ihr von uns zu berichten. Denn als es zur Pause klingelte, die Türen aller Klassenzimmer aufflogen und die Schule sich plötzlich mit lauten Kinderstimmen füllte, eilte sie vom Ende des Ganges auf uns zu. Gerade hatten wir begonnen, einige Jungen und Mädchen nach George zu fragen. Sie zeigten ihn uns, und wir gingen auf einen aufgeweckten Achtjährigen zu.
»Hi George«, sagte Barack. Der Junge schaute neugierig zu ihm hoch, anschließend sah er mich an.
»Ich bin Auma, deine Schwester, und das ist Barack, dein Bruder«, erklärte ich, doch da stand schon die Schulleiterin neben uns.
»Es tut mir leid«, schaltete sie sich ein. »Aber Sie dürfen nicht mit George sprechen.«
»Warum nicht?«
»Ich habe mit seiner Mutter telefoniert, und sie hat es nicht erlaubt.«
»Mein Bruder ist den ganzen Weg aus den USA gekommen und möchte seine
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