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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oskar Maria Graf
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durchwanderte unablässig und ohne jedes Ziel die Stadt. Ich kam vor die Zeitungsgebäude, las mit vielen anderen, die ebenso stumm dastanden wie ich, die letzten Telegramme und trottete wieder weiter. Ich mengte mich in dicht gedrängte, heftig diskutierende Gruppen und schnappte Gerüchte auf, besuchte Genossen und besprach mit ihnen die politische Lage. Ich kam in wilde politische Versammlungen, geriet in Tumult und Gedränge und hatte nicht selten Schlägereien mit Nazis. Einzeln kam man nicht mehr auf gegen sie. In Gruppen schlugen wir uns.
    Müde, zerschlagen und noch bedrückter kam ich nach Hause.
    »Die Stimmen der Nazis nehmen zu und zu. Hitler kommt ganz legal an die Macht«, sagte meine Frau und stellte das Radio ab.
    »Ich weiß, ich weiß! Es ist schon Bürgerkrieg! … Eigentlich Bandenkrieg!« erwiderte ich verdrossen. »Die Hitleristen stechen und schießen und zertrampeln jeden Gegner, und die Polizei schützt sie noch obendrein … Ach, und die Arbeiter sind uneinig! … Zum Verzweifeln!« Mein Kopf war leer. Immer noch schwang der Straßenlärm durch mein Hirn.
    Als ich jetzt am stillen Berger Schloß vorüberging und aufwärtsstieg, war mir, als sei ich einer gefährlichen Feuersbrunst entronnen.
    Seit dem Sturz Brünings wurde unentwegt gewählt: für den Reichstag, für die Landesparlamente und Gemeinden. Tag für Tag surrten Autos mit bellenden Lautsprechern durch die Straßen und spien Tausende von Flugblättern. Die Plakatschlachten und Kämpfe der Klebekolonnen nahmen nie dagewesene Dimensionen an. Die Litfaßsäulen wurden mit Petroleum übergossen und angezündet. Knisternd fingen die angeklebten Plakate Feuer, rollten verkohlt zusammen. Die emporlodernde Flamme trieb ihre Reste mit dem dicken Rauch in die Luft. Berittene Polizei sprengte heran. Tumulte gab es. Schlägereien, Schießereien und willkürliche Verhaftungen ereigneten sich Nacht für Nacht. Verwundete wurden in die Krankenhäuser gebracht, und die Toten waren oft so zerschunden, daß man sie nicht gleich identifizieren konnte.
    »Im Namen der Nation! Für Deutschland!« verbreiteten Hitlers bewaffnete Garden überall Angst und Schrecken.
    Um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen und die gemäßigten Nationalisten für sich zu gewinnen, hatte der neue Kanzler sofort nach seiner Amtseinsetzung aus eigener Machtvollkommenheit die sozialdemokratische Regierung des Landes Preußen abgesetzt und die Minister gewaltsam aus ihren Amtsräumen entfernen lassen. Die Linken tobten, aber die Rechten fanden den neuen Mann sehr brauchbar und energisch. Er setzte Neuwahlen an, hob viele Notverordnungen auf und erließ eine umfangreiche Amnestie für politische Gefangene, um sich Sympathien zu schaffen. Doch die Nazis schränkten ihren Terror nicht ein, und bei den Arbeiterparteien wurden strenge Waffensuchen durchgeführt. Endlich aber mußte Herr von Papen doch ein neues Gesetz erlassen, das jede politische Untat mit dem Tode bestrafte. Nach dieser Amtshandlung begab er sich zur internationalen Konferenz nach Lausanne und erreichte – was man seinem Vorgänger nie zugestanden hätte – von England und Frankreich, daß die Höhe der Kriegsschulden auf zwei Milliarden Goldmark festgelegt wurde. Auch Zugeständnisse einer Zahlungserleichterung erhielt er. Tagelang brachten die großen Zeitungen der Welt sein Bild.
    Aber: »Zwei Milliarden Goldmark!? Zwei Milliarden? Zweimal tausend Millionen. Zwanzig hundert Millionen Goldmark!« fegte es durchs Land, und solange trommelte die nationalsozialistische und reaktionäre Opposition die Zahl dieser unvorstellbaren Summe in die Hirne, bis jeder Mensch sagte: »Hm, das ist doch ganz und gar unmöglich! Da zahlen wir ja bis zum fünften oder sechsten Glied! Ausgeschlossen – so kann’s nicht weitergehen!«
    Und es wurde weitergekämpft und weitergewählt. Die Republik war längst zerfallen, und die hinausgeworfenen sozialdemokratischen Minister, die vor dem Reichsgericht wegen ihrer ungesetzlichen Absetzung prozessierten, zogen sich das Gelächter aller zu. Hitler durchflog im eigenen Flugzeug das Land und hielt seine militärisch aufgezogenen Riesenversammlungen ab.
    Bedrängt von all diesen Erlebnissen blieb ich in der Mitte des Bergweges, der sich nach Oberberg hinaufzog, stehen. Ich schaute hinunter auf die graublaue Seefläche, hinüber nach Starnberg und in die Richtung, wo München lag. Es war nichts zu sehen als ferne, umdunstete, bewaldete Hügelkämme und der herbstliche Himmel.

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