Das Leben meiner Mutter (German Edition)
abermals zurück, prüfte die Stempelkarte genauer und fuhr fort: »Ihre Arbeitslosen-Unterstützung läuft diese Woche ab. Sie werden dem Städtischen Wohlfahrtsamt überwiesen.« Er nahm den Federhalter, beugte sich über die Karte und kritzelte irgend etwas darauf.
»Wieso denn? Warum denn? … Ich war vier Jahre im Krieg, hab’ Frau und zwei Kinder! Ich will Arbeit und kein Almosen!« schrie der Mann, aber die hinter ihm Nachdrängenden schoben ihn schon weiter. Millionen teilten mit ihm das gleiche Schicksal.
Wie war das eigentlich gekommen? Vor ein paar Jahren sah es doch noch weit besser aus?!
Wirtschaftskrisen durchzogen alle Länder. Es hatte damit begonnen, daß auf einmal die internationalen Anleihen stockten. Banken krachten zusammen, und ungezählte Sparer verarmten in einer Nacht. Die Regierung mußte zu drakonischen Maßnahmen greifen, aber sie steigerte damit nur die allgemeine Erregung gegen das ganze »System« und richtete wenig aus. Die Weltmärkte fanden keinen Absatz mehr. Die Betriebe rationalisierten unbarmherzig. Eine lähmende Ausweglosigkeit breitete sich aus. –
Als der Mann nach einigen Tagen die letzte Arbeitslosenunterstützung erhielt, kam er heim, legte zwei Heringe auf den Tisch und zählte das übrige Geld hin.
»Ich hab’ gleich die elektrische Rechnung und das Gas bezahlt,« sagte er.
Seine Frau nickte, rechnete nach und kaufte Milch, Zukker und Brot für die Kinder. Auch für ein bißchen Grieß reichte das Geld noch.
»So, Kinder, jetzt kriegt ihr gleich was Warmes,« tröstete sie die hungrigen Kleinen. Friedlich aßen allesamt das wenige auf.
»Als Bäcker krieg’ ich keine Arbeit … In der Schellingstraße sucht eine Knopf-Firma Hausierer«, meinte der Mann nach einer Weile, »ich will einmal hingehen. Vielleicht hab’ ich Glück.«
»Jaja, tu das! Geh gleich, jaja!« ermunterte ihn seine Frau und bekam seltsam flimmernde Augen. Zärtlich streichelte sie seine Hand. Er ging, aber er hatte kein Glück. Hunderte waren schon dagewesen. Er kam nach Hause. Seine Wohnung war aufgebrochen. Es roch nach Gas in den öden Räumen. Die Nachbarn kamen mit angstvolltraurigen Gesichtern und erzählten, daß sich seine Frau mit den Kindern gasvergiftet habe. Die Rettungsgesellschaft habe nur noch die Leichen herausschaffen können. Der Mann sagte nichts und ging davon. Zufällig las ich in einer lakonischen Zeitungsnotiz, daß er Michael Beckenbauer geheißen hatte. Wochenlang versuchte ich vergeblich, ihn irgendwo aufzuspüren. Vielleicht war er in den Tod gegangen. –
Der Kanzler, der jetzt die absterbende Republik leitete, war der fromme, fast mönchisch gesinnte Katholik Dr. Heinrich Brüning. Er vertraute nur auf Gott und den alten Reichspräsidenten Hindenburg. Er lebte einfach und bedürfnislos und wollte auch das Volk durch strengste Sparsamkeit aus dem hereingebrochenen Elend herausführen. Es fehlte ihm nicht an Energie. Er schaltete den Reichstag aus, schickte die Abgeordneten auf unbestimmte Zeit nach Hause und regierte mit Hilfe seiner wöchentlichen, sogenannten »Notverordnungen«, die der Präsident stets unterschrieb.
In kurzen Intervallen entließen die Fabriken immer neue Scharen von Arbeitern. Die Erwerbslosenziffer stieg auf fünf, dann auf sechs, sieben und schließlich auf acht Millionen. Ein Jahr, zwei und drei Jahre blieb das Leben junger Lehrlinge, arbeitserfahrener Männer, schulentlassener Mädchen und abgerackerter Mütter so:
Im Winter überfüllten sie die Stempelstellen und warteten. Im Sommer bevölkerten sie zu Hunderten die städtischen Grünanlagen, trieben kärgliche Glücksspiele, feilschten mit irgendwelchen Kleinigkeiten oder lagen draußen vor der Stadt, an den kühlen Ufern der Flüsse und Bäche. Sie stahlen Obst und brieten die unreifen Kartoffeln, die sie aus den umliegenden Äckern der Bauern gerissen hatten. Polizisten tauchten auf und vertrieben sie. Fluchend wanderten sie weiter und lagerten auf versteckteren Plätzen. Die Nacht brach herein, und außer denjenigen, die einfach im Freien kampierten, wußten die meisten nicht, was sie anfangen sollten. Die Mädchen gingen auf die nächtlichen Straßen und boten sich dem nächstbesten Liebhaber an. Auch die Jungen fanden manchmal einen freundlichen Herrn, der sie bewirtete und mit nach Hause nahm.
In den Parks hockten die mürrischen Männer und schauten verloren ins Dunkel. Und jeder dachte stumpf: »Wie lang soll das so weitergehn?« Ein fremder Mensch setzte sich zu
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