Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Sie dachte an das enge Haus ihrer Kindheit mit all ihren vielen Brüdern und Schwestern. Sie dachte an ihre Onkel und Tanten, die ständig davon gesprochen hatten, nach Quebec zurückkehren zu wollen, und nicht einer hatte es in die Tat umgesetzt. Sie dachte an Carl und das Leben, das sie zusammen geführt hatten. An ihre Mädchen mochte sie nicht denken. Sie hatte ja nicht ahnen können, niemand konnte ahnen, dass sie in einer Zeit des Protests und der Drogen heranwachsen würden, mit einem Krieg, für den sie keine Verantwortung übernehmen wollten. Sie stellte sich eine Pusteblume vor, wenn sie an ihre Familie dachte, die weißen, beinahe schwerelosen Samen, verweht in alle Richtungen. Der Schlüssel zur Zufriedenheit lag darin, nicht nach Gründen zu fragen, das hatte sie vor langer Zeit gelernt.
Der Regenwald schillerte grün. Mrs. Drinkwater schaukelte mit dem Fuß und schaute zu.
Bob kehrte mit zwei Sandwichs ins Hotelzimmer zurück. »Jimmy?«, rief er. Das Zimmer war leer. Im Badezimmer brannte das Licht über dem Waschbecken. »Jimmy?« Er warf die Tüte mit den Sandwichs neben Zachs Handy auf das Bett.
Sein Bruder stand auf dem Balkon, gegen die Hausmauer gelehnt, als befürchtete er, das Bewusstsein zu verlieren.
»Oi«, sagte Bob. »Du hast einen sitzen.«
»Nein, das weniger.« Jim sprach leise, und der Fluss rauschte laut.
»Jim, komm rein.« Der Wind frischte plötzlich auf.
Jim hob einen Arm, schwenkte ihn kraftlos in Richtung des Flusses und der Stadt dahinter, deren Kirchtürme über den Bäumen und Dächern zu sehen waren.
»Es ist alles anders gekommen, als ich es wollte.« Er ließ den Arm herunterfallen. »Ich wollte den Menschen hier in Maine helfen.«
»Himmelarsch, Jim, das ist nicht der Augenblick für Selbstmitleid.«
Jim wandte Bob das Gesicht zu. Er sah sehr jung und müde und ratlos aus. »Bobby, hör zu. Jeden Moment ruft hier ein State Trooper an und teilt uns mit, dass irgendein Bauer Zach erhängt in seiner Scheune oder an einem Baum gefunden hat. Was weiß ich, ob er seinen Computer dabeihat. Die Reisetasche? Na und?« Jim tippte den Daumen leicht gegen die Brust. »Und genau genommen? Unterm Strich? Hab ich ihn ja wohl auf dem Gewissen.« Er wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Ich habe Dick Hartley ans Bein gepinkelt, und ich habe Diane Dodge abgekanzelt. Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht, weil ich unbedingt den dicken Max spielen musste.«
»Jim, hör auf mit dem Blödsinn. Wir wissen nicht, ob er tot ist – und was immer passiert ist, es ist nicht deine Schuld, verdammt noch mal!«
»Er hat versucht, mich in meiner aufgeblähten Großkanzlei anzurufen, Bob, und ist nicht mal zu mir durchgestellt worden, so wichtig nehmen sich dort alle.« Jim schaute wieder auf den Fluss, schüttelte langsam den Kopf. »Ich hab mal als der beste Strafverteidiger im ganzen Land gegolten. Kannst du dir das vorstellen?«
»Jim, Schluss jetzt.«
Jim runzelte angestrengt die Stirn. »Meine Pflicht wäre es gewesen, hierzubleiben und mich um euch alle zu kümmern.«
»Ja? Wer sagt das? Jetzt komm rein und iss was.«
Jim winkte die Frage beiseite, schaute hinaus auf den Fluss, eine Hand auf dem Geländer. »Stattdessen bin ich davongelaufen und prominent geworden. Jeder wollte meine Meinung hören, eine Talkshow hier, eine Rede dort. Dazu tonnenweise Geld, über das ich froh war, weil es mich von Helens Geld unabhängig gemacht hat. Dabei hatte ich nur Leute verteidigen wollen, die sonst keiner verteidigt, ganz ehrlich.« Er stand da, schaute dem Fluss zu. »Und jetzt ist das alles im Arsch«, sagte er. Er drehte sich zu Bob um, und zu seiner Bestürzung sah Bob, dass sein Bruder feuchte Augen hatte. »Wirtschaftsverbrechen?«, fragte Jim. »Leute verteidigen, die mit Hedgefonds Millionen ergaunert haben? Das ist Scheiße , Bob. Und wenn ich jetzt von der Arbeit komme, ist das Haus leer und die Kinder – Gott, die Kinder waren alles, dazu ihre Freunde – , und jetzt ist es still im Haus, und ich habe Angst , Bobby. Ich denke ständig an den Tod. Schon vor der Fahrt hierher. Ich denke an den Tod, und ich habe das Gefühl, dass ich um mich selbst trauere, und – ach, Bobby, Mann, irgendwie läuft mir gerade alles aus dem Ruder.«
Bob fasste seinen Bruder an den Schultern. »Jimmy. Du machst mir Angst. Und du bist betrunken. Aber hier geht’s jetzt erst mal um Susan und Zach. Das wird schon wieder bei dir.«
Jim befreite sich, lehnte sich wieder gegen die Wand,
Weitere Kostenlose Bücher