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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Terroristen Unterschlupf, behaupteten sie. Der Islam war eine Friedensreligion, und die Männer vor Abdikarims Café klangen trotzig und beschämt.
    Abdikarim hörte ihnen zu, und er fühlte dasselbe wie sie. Aber vielleicht wurde er allmählich senil, dachte er, denn verstohlen regte sich in seinem Herzen noch etwas anderes, und wenn es nicht Hoffnung war, so hätte es doch der Bruder der Hoffnung sein können. Sein Land war krank, es lag in Krämpfen. Statt von Helfern war es von heimtückischen Verrätern umgeben. Aber in kommenden Jahren – die er selbst nicht mehr erleben würde, das wusste er – würde sein Land wieder stark und gut sein. »Ihr müsst eins bedenken«, sagte er den Männern. »Somalia war das letzte afrikanische Land, in dem das Internet eingeführt wurde, aber in sieben Jahren hat es die höchste Wachstumsrate erreicht, und niemand hat so billige Mobilfunktarife wie wir. Seht euch in dieser Straße um, wenn ihr einen Beweis für die Intelligenz der Somali braucht.« Er schwenkte den Arm, zeigte auf die neuen Läden, die im Lauf des Winters in Shirley Falls aufgemacht hatten. Ein Übersetzungsbüro, noch zwei Cafés, ein Geschäft, das Telefonkarten verkaufte, eine Sprachenschule für Englisch.
    Aber die Männer wandten den Blick ab. Sie wollten nach Hause. Abdikarim verstand das nur zu gut. Trotzdem, er kam nicht gegen dieses Gefühl an, als würde sich in seiner Seele etwas öffnen, jeden Tag ein bisschen weiter, so wie der Horizont jeden Tag ein paar Augenblicke länger offen blieb.

3
    Pams Tage waren mit so vielen Terminen, Besorgungen, Partys und Spielnachmittagen angefüllt, dass ihr, wie sie zu ihrer Freundin Janice sagte, zum Denken keine Zeit blieb. Doch jetzt litt sie an Schlaflosigkeit, was ihr jede Menge Zeit zum Denken verschaffte, und es trieb sie zum Wahnsinn. Hormone, riet ihr Janice. Lass deinen Hormonspiegel überprüfen und dir welche verschreiben. Aber Pam hatte sich schon mit Hormonen vollgepumpt, um ihre Jungs empfangen zu können. In dieser Hinsicht war sie genügend Risiken eingegangen, es reichte ihr. Also lag sie nachts wach, und zeitweise war das ein sonderbar friedliches Gefühl, die Dunkelheit warm, wie gesättigt vom unsichtbaren Violett ihrer Steppdecke, so dass Pam in einem Kokon kindlicher Geborgenheit Rückschau hielt auf ein Leben, das ihr verblüffend lang erschien; sie staunte, dass sich so viele Leben in eins packen ließen. Sie spürte sie eher, als dass sie sie benennen konnte: der Fußballplatz hinter der Highschool im Herbst, der magere Oberkörper ihres ersten Freundes, unglaublich kam ihr diese Unschuld jetzt vor, wobei die sexuelle Unschuld fast noch am geringsten wog, unmöglich, sie zu benennen, die zaghaften, ernsten, brennenden Hoffnungen eines jungen Mädchens damals im ländlichen Massachusetts – und dann Orono und die Uni und Shirley Falls und Bob, und Bob, und Bob, die erste Untreue (und da war es, das Ende der Unschuld, die beängstigende Freiheit des Erwachsenseins mit all seinen Irrungen und Wirrungen!) und dann eine neue Ehe und ihre Söhne. Ihre Söhne. Nichts ist je so, wie man es sich vorstellt. Ein sehr simpler und sehr unheimlicher Gedanke. Die Variablen waren zu groß, die Ausprägungen zu unterschiedlich, es war ein zu weiter Weg von den verschwommenen Sehnsüchten des Herzens zu den unwandelbaren Gegebenheiten der physischen Welt: dieser violetten Steppdecke und ihrem leise schnarchenden Ehemann. Um die Veränderungen in ihrem Leben besser zu verstehen, malte sie sich manchmal aus, wie sie ihren Freund aus der Highschool wiedertraf (vielleicht in dem Imbiss neben dem Pflegeheim ihrer Mutter, sie beide am Tresen lehnend, seine Augen voll verhaltener Neugier) und ihm alles erzählte. Dies ist passiert, und dann das, und das. Es würde nicht gänzlich den Tatsachen entsprechen. Sie glaubte nicht, dass sich irgendetwas so erzählen ließ, dass es gänzlich den Tatsachen entsprach. Kraftlose Worte, gutgemeinte Tupfer auf der weitgespannten Leinwand eines Lebens mit all ihren Beulen und Knoten … Was für Worte würde sie wählen, um ihre Erfahrung vor ihm auszubreiten? Dass er seine eigene Erfahrung haben würde, interessierte sie längst nicht so sehr, keine Frage. Zerknirscht – aber freimütig, denn sie war ja allein in ihrem violetten Dunkel – gestand sie sich ein, dass es nicht die Erfahrung eines anderen war, die sie drehen und wenden und ausleuchten und verschlingen wollte, nur ihre eigene.
    Ihre Gedanken zerfaserten,

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