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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Gerichtssaal schon, da hatte es angefangen, durch den ganzen Saal hatte Abdikarims Herz für diesen langen, mageren Jungen geschlagen. Er hatte die Zeitungsfotos von ihm gekannt. Aber als er ihn dann im wahren Leben sah, erst stehend neben seinem Anwalt und dann im Zeugenstand sitzend, mit diesem Glas Wasser, das er verschüttete, war über Abdikarim ein stummes Erstaunen gekommen. Er musste daran denken, wie er sich Schnee vorgestellt hatte. Als kalte, weiße Masse, die den Boden bedeckte. Aber das hatte nicht gestimmt. Lautlos und fiedrig und geheimnisvoll war er vom Nachthimmel geschwebt, Abdikarims erster Schnee. Und hier war dieser Junge, lebend und atmend, seine dunklen Augen schutzlos, angreifbar, und er entsprach in keiner Weise Abdikarims Vorstellung. Was in aller Welt den Jungen dazu getrieben haben mochte, einen Schweinekopf durch die Moschee zu rollen, würde für Abdikarim ein ewiges Rätsel bleiben, aber es war ganz sicher nicht die Macht des Bösen. Er begriff, dass andere , seine Nichte etwa, Haweeya , unbeeindruckt blieben von der Furcht, die den Jungen in ihrem Griff hielt. (Aber Haweeya hatte ihn nicht erlebt!) Also schwieg Abdikarim, auch wenn er zu wissen glaubte, dass die Furcht bis ins Innerste des Jungen hinabreichte, und sein Herz, sein müdes, wehes Herz, ihm quer durch den Gerichtssaal entgegengeschlagen hatte.
    Margaret Estaver war es, die Abdikarim erzählte, dass der Junge jetzt in Schweden bei seinem Vater wohnte, und sein ganzer Körper wurde warm vor Freude. »Gut, sehr gut«, sagte er der Pastorin. Viele Male am Tag dachte er daran, dass der Junge bei seinem Vater in Schweden war, und jedes Mal wurde sein Körper warm vor Freude.
    »Es ist gut. Eine gute Sache. Fiican xaalad .« Margaret lächelte übers ganze Gesicht, als sie es sagte. Sie standen auf dem Gehsteig vor ihrer Kirche. Im Keller der Kirche war die Essensausgabe. Es waren hauptsächlich die Bantu-Frauen, die sich zweimal die Woche um Cornflakes und Kräcker anstellten, um Salatköpfe, Kartoffeln und Papierwindeln. Abdikarim sprach nicht mit ihnen, aber wenn er an der Kirche vorbeikam und Margaret Estaver sah, blieb er manchmal stehen und unterhielt sich mit ihr. Sie übte tapfer Somali, und ihre Bereitschaft, sich zu blamieren, erfüllte sein Herz mit Zärtlichkeit. Ihretwegen gab er sich neue Mühe mit seinem Englisch.
    »Kann er zurückkommen?«, fragte er die Pastorin.
    »Natürlich, das sollte er sogar. Allerspätestens zum Prozessbeginn. Andernfalls kriegt er gleich den nächsten Ärger. Er muss hier sein«, sagte Margaret, als sie Abdikarims verwirrten Gesichtsausdruck sah, »wenn sein Fall vor Gericht verhandelt wird.«
    »Erklären Sie das, bitte«, sagte Abdikarim. Er hörte zu und fragte dann: »Und wie nimmt man die Anklage weg, so wie die andere Anklage?«
    »Die andere ist nie erhoben worden, deshalb musste sie auch nicht abgewiesen werden. Was passieren muss, damit der Bezirksanwalt seine Anklage fallenlässt – ich weiß nicht, ob das möglich ist.«
    »Können Sie es herausfinden?«
    »Ich kann’s versuchen.«
    Ansonsten verbrachte Abdikarim die Tage in seinem Café oder auf dem Gehsteig davor und redete mit den Männern, die sich dort versammelten. Jetzt, wo es wärmer wurde, konnten sie es länger im Freien aushalten; sie fühlten sich wohler im Freien. In Mogadischu wurde gekämpft, das war das große Thema unter ihnen. Eine Familie, die zwei Jahre lang in Shirley Falls ausgeharrt hatte, war – zermürbt vom Heimweh – im Februar mit Sack und Pack nach Mogadischu zurückgekehrt. In letzter Zeit hatte man nichts mehr von ihnen gehört, und nun hatten sich die Befürchtungen bestätigt: Sie waren bei den Kämpfen umgekommen. Vor einer Woche hatten die Aufständischen das Regierungsgebäude unter Beschuss genommen, dazu den Präsidentenpalast und das Verteidigungsministerium, wo die Äthiopier einquartiert waren, und die Äthiopier hatten wütend und wahllos das Feuer erwidert und über tausend Menschen getötet, samt ihren Tieren. Nachrichten dieser Art kamen über Handys, sie kamen über das Internet, das die Stadtbücherei von Shirley Falls zur Verfügung stellte, und sie kamen über die täglichen Berichte auf dem Kurzwellensender 89.8 FM aus Garowe, der Hauptstadt von Puntland. Und noch etwas machte den Männern Sorgen: Die Vereinigten Staaten unterstützten Äthiopien. Der Präsident, die CIA – mussten sie dann nicht beteiligt sein? Es war gar nicht anders denkbar. Somalia gewährte

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