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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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darüber, und alles mit diesem billigen Beigeschmack: die verpissten U-Bahntreppen, der Unrat in den Bordsteinen, die taubenkotbekleckerten Denkmäler, das goldbesprühte Mädchen im Park. Nein, nicht die Stadt war es, die Susan erschreckte. Es waren ihre Brüder.
    Wer waren sie? Wie konnten sie so leben? Das waren nicht der Bob und Jim aus Susans Kindheit. Bob, dessen Wohnungstür eine von vielen auf einem teppichbelegten Korridor war – wie im Hotel wohnte er! Und unten im Foyer dieser uniformierte Wachmann, der nur dazu da war, Obdachlose auf die Straße zurückzuscheuchen und die Drehtür in Gang zu setzen … Es war eine furchtbare Art zu leben, kaum menschenwürdig. Ob sie den Blick auf den Fluss nicht schön fände, hatte Bob wissen wollen. Was sollte sie mit einem Fluss, der so tief unten war, dass sie genauso gut aus einem Flugzeugfenster hätte schauen können? Und in solch einer Umgebung, das schien das Unfasslichste von allem, in solch einer Umgebung brachte Bob dieses stillschweigend zum Tabu erklärte Thema zur Sprache, den Unfall ihres Vaters – brachte es einfach zur Sprache! Susan fühlte sich desorientiert, richtiggehend körperlich geschwächt von diesem vielfältigen Ansturm.
    Ihre Brüder hatten Shirley Falls verlassen, sicher, aber deshalb waren es trotzdem ihre Brüder gewesen. Jetzt nicht mehr. Für Susan, die sich in ein Blatt Klopapier schnäuzte, war es, als hätte das Universum plötzlich Schlagseite bekommen. Sie war vollkommen allein, ihr einziger Halt in der Welt ein Sohn, der sie nicht mehr brauchte. Ein Blick auf dieses Haus reichte doch (Susan spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, öffnete die Badezimmertür), dieses Haus, wo Jim drei Kinder großgezogen hatte, wo er Essenseinladungen gab (Susan sah es vor sich, während sie zurück ins Wohnzimmer ging), wo er große Familienweihnachten feierte, wo er am Wochenende im Schlafanzug herumschlunzte, seine Zeitungen auf den Couchtisch warf, wo er zahllose Abende mit seinen Kindern und seiner Frau vor dem Fernseher verbracht hatte – sah so ein Zuhause aus? Nein, ein überdimensionales Möbelstück war es. Ein Museum, mit diesen hohen Decken. Und dunkel . Wer wollte in solcher Düsternis wohnen, zwischen all diesen übertriebenen Holzschnitzereien und Leuchten wie uralten Antiquitäten? Wer wollte so leben?
    Sie sagten irgendetwas zu ihr, Helen winkte sie nach oben, Hausbesichtigung, sagte Helen, ich finde es immer so spannend, wie andere Leute eingerichtet sind, hier der Ankleideraum, sagte Helen, ich bin die einzige Frau in der ganzen Stadt, deren Mann mehr Kleider hat als sie, und sie gingen an Reihen von Anzügen vorbei, wie in einem Kaufhaus kam man sich vor, sogar ein Fenster gab es, als ob Kleider eine Aussicht bräuchten, und eine Wand, die ein einziger Spiegel war, riesig und hoch. Susan konnte ihrem Anblick nicht ausweichen: eine grauhaarige Frau mit käsigem Gesicht und ausgebeulter schwarzer Hose. Helen dagegen wirkte klein und kompakt im Spiegel, wie aus dem Ei gepellt in ihrem perfekt sitzenden Strickkleid und der Strumpfhose, woher nahm sie die Gabe, sich so zu kleiden?
    Ja, das Universum hatte Schlagseite. Es war unheimlich, den Grund, auf dem man stand, wegrutschen zu fühlen. Weder Vater zu haben noch Mutter, Ehemann, Brüder, und nicht einmal den Sohn …
    »Susan.« In Helens Stimme schien eine Schärfe durchzuklingen. »Brauchst du was zu trinken?«
    Später, im Garten, saßen Susan und Bob nebeneinander auf der schmiedeeisernen Bank, beide mit einem Club Soda. Helen balancierte auf der Vorderkante ihres Gartenstuhls, die Beine übergeschlagen, und hatte sich ihr Weinglas fast randvoll geschenkt. »Jim, setz dich«, sagte sie, denn ihr Mann wanderte herum und beugte sich bald über die Funkien, bald über die neuen Lilientriebe – als hätte er sich je um irgendetwas im Garten geschert! – , oder er lehnte sich an den Verandapfosten, und einmal verschwand er sogar im Haus und kam mit leeren Händen wieder heraus.
    Helen hatte das Gefühl, in ihrem ganzen Leben nicht so wütend gewesen zu sein, was natürlich nicht stimmen konnte. Tatsache war jedenfalls, dass hier irgendetwas gründlich schieflief, und keiner – keiner, bei vier Erwachsenen – half ihr, den Ball am Rollen zu halten. Es fiel leicht, die Schuld daran Susan zu geben, und das tat Helen. Diese verkrampfte Haltung, als wäre sie überall lieber als hier, der schlabberige Rollkragenpullover mit den vielen Knötchen untenrum, aus so minderem Material

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