Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
sie zu den Akten. Die Luft ist raus aus der Geschichte. So was ist im Prinzip gang und gäbe, und letztlich hatte Charlie darauf auch spekuliert. Nur dass es in diesem Fall natürlich politische Auswirkungen gab. Aber die Somali-Gemeinschaft, die Ältesten, oder wen sie eben gefragt haben, waren damit einverstanden, dass die Sache nicht weiterverfolgt wird.« Jim zuckte die Achseln. »Was immer.«
Susan sagte: »Aber dann kommt er ja überhaupt nie mehr heim«, und Helen, die mit Jubel gerechnet hatte, hörte die Qual in ihrer Stimme und begriff augenblicklich, dass das gut möglich war – der Junge würde überhaupt nie mehr heimkommen.
»Ach, Susan«, murmelte Helen, und sie stand auf und ging zu ihrer Schwägerin und streichelte ihr sanft den Rücken.
Die Brüder saßen da. Bob sah mehrmals zu Jim hinüber, aber Jim erwiderte den Blick nicht.
An einem warmen Julitag kam Adriana Martic in Alan Anglins Büro und überreichte ihm stumm ein Dokument, das Alan an Umfang und Schrifttyp sofort als Beschwerde erkannte. »Was haben wir denn da?«, fragte er liebenswürdig und wies auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Bitte setzen Sie sich doch, Adri.«
Adriana nahm Platz. Nach den ersten paar Zeilen spähte Alan zu ihr hinüber. Ihr langes, blondgesträhntes Haar war zu einem niedrigen Pferdeschwanz zurückgebunden, und sie war blass. Sie war immer eine stille junge Frau gewesen, und auch jetzt schwieg sie, als er sie ansah. Sie schlug die Augen nicht nieder.
Er las die Beschwerde bis zum Ende durch. Sie war vier Seiten lang, und als Alan sie vor sich auf den Tisch legte, spürte er trotz Klimaanlage einen Schweißfilm auf seinem Gesicht. Sein erster Impuls war, die Tür zu schließen, doch allein schon die Natur ihrer Beschwerde machte diese Frau zu einer Gefahr. Ebenso gut hätte sie eine Maschinenpistole auf dem Schoß halten können; mit ihr allein im Zimmer zu sein hieße, ihr ein zusätzliches Magazin mit Patronen in die Hand zu drücken. Ihre Schadensersatzforderung lautete auf eine Million Dollar.
»Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen«, sagte Alan und stand auf. Auch sie erhob sich, und er ließ ihr mit einer Handbewegung den Vortritt.
Die Sonne brannte gnadenlos auf das Pflaster. Leute mit Sonnenbrillen und Aktenmappen gingen an ihnen vorüber. Ein Obdachloser durchwühlte den Papierkorb neben dem Zeitungsstand an der Ecke. Er trug einen Wintermantel mit ausgerissenen Taschen.
»Wie kann er bei dem Wetter in dem Ding rumlaufen?«, fragte Adriana gedämpft.
»Er ist krank. Schizophren höchstwahrscheinlich. Leute mit Wahnvorstellungen haben schnell Untertemperatur. Es ist eins der Symptome.«
»Ich weiß, was Schizophrenie ist.« Adriana klang unmutig. »Aber das mit der Körpertemperatur wusste ich nicht«, fügte sie hinzu.
Er kaufte am Zeitungsstand zwei Flaschen Wasser, und als sie ihre entgegennahm, sah er, dass ihre Fingernägel bis zum Fleisch abgekaut waren; ganz neu wurde ihm der Grad der Gefahr bewusst. Sie setzten sich auf eine Bank im Schatten. Die Männer und Frauen um sie herum bewegten sich hastig, trotz der Hitze. Nur eine alte Frau mit einer Plastiktüte in der Hand ging langsam. »Dann erzählen Sie mal«, sagte Alan freundlich und wandte sich Adriana zu.
Sie erzählte. Sie war ganz offensichtlich vorbereitet, und sie hatte Angst, wobei er nicht sicher hätte sagen können, ob sie sich vor ihm fürchtete oder davor, dass er ihr nicht glauben würde. Sie hatte Telefonprotokolle, Nachrichten auf ihrer Mailbox, Restaurantrechnungen, Hotelrechnungen. E-Mails an eine private Mailadresse. Und auch E-Mails an ihre Kanzleiadresse. Aus ihrer großen Handtasche zog sie einen Ordner, blätterte darin, reichte ihm ein paar Seiten.
Mit schlechtem Gewissen las er die panikgetriebenen Zeilen eines Mannes, den er seit vielen Jahren kannte und fast wie einen Bruder liebte, eines Mannes, der den Fehler so vieler Männer begangen hatte (ausgerechnet Jim! Aber so war es ja häufig), aufgescheucht durch Adrianas spitze Andeutungen, dass sie Kontakt zu seiner Frau aufnehmen könnte – Alan schloss kurz die Augen vor dem Namen »Helen«, dann las er weiter. Ja, da stand es, eine Drohung: So dumm wirst du ja wohl nicht sein, dann kannst du deine Karriere begraben, was glaubst du eigentlich, mit wem du es zu tun hast?
Und das war noch nicht alles.
»Es wird in die Zeitung kommen«, sagte Adriana ruhig.
»Wir können versuchen, das zu verhindern.«
»Das wird schwer sein. Dafür ist die
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