Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Kanzlei zu groß und zu prominent.«
»Fühlen Sie sich dem denn gewachsen?«, fragte er. »Wir müssen das Richtige tun, und vielleicht haben Sie recht, vielleicht kommt es in die Zeitung, aber das heißt auch, dass Sie, alle möglichen Dinge über Sie, in der Zeitung stehen werden. Können Sie damit umgehen?«
Sie sah hinab auf ihre hochhackigen Schuhe, auf ihre Beine, die sie von sich gestreckt hatte. Sie trug keine Strumpfhose, bemerkte er. Nun, dafür war es wohl auch zu heiß. Aber ihre Beine waren makellos, keine Venen, keine Leberflecken, nur diese glatten Schienbeine, weder zu gebräunt noch zu weiß. Ihre Schuhe waren braun und vorne offen. Übelkeit regte sich in ihm.
»Haben Sie mit irgendjemandem über die Sache gesprochen? Waren Sie bei einem Anwalt?« Er tupfte sich den Mund mit der Papierserviette, die er zu dem Wasser dazubekommen hatte.
»Noch nicht. Ich habe die Beschwerde selbst geschrieben.«
Alan nickte. »Ich würde Sie bitten, noch einen Tag zu warten, bevor Sie irgendwelche Schritte unternehmen. Und wir reden morgen noch mal.«
Sie nippte an ihrem Wasser. »Ist gut«, sagte sie.
Jim und Helen waren in ihrer Ferienwohnung in Montauk. Alan rief erst Dorothy an und dann Jim, und dann fuhr er zur Pennsylvania Station und nahm den Zug nach Montauk. Als er ausstieg, wartete Jim schon am Bahnsteig, und die Luft schmeckte nach Salz, und sie fuhren zum Strand, wo die Wellen träge und unerbittlich heranrollten.
»Fahren Sie hin.« Rhoda auf ihrer Couch machte eine scheuchende Handbewegung. »Ihr berühmter Bruder ist sich zu fein, Sie zurückzurufen? Dann fahren Sie einfach zu ihm.«
Während seiner Ehe hatten Bob und Pam jeden Sommer eine Woche bei Jim und Helen in Montauk verbracht: Pam auf einem Bodyboard, quietschend und lachend; Helen, die ihre Kinder dick mit Sonnenmilch einrieb; Jim, der drei Meilen den Strand entlangjoggte und dafür Lob erwartete, es bekam, in die Wellen hechtete … Nach der Trennung von Pam war Bob dann allein hingefahren, um mit Jim und Larry Tiefseefischen zu gehen (armer Larry, jedes Mal seekrank) und abends mit seinem Drink auf dem Balkon zu sitzen. Diese Sommertage waren eine Konstante in einer Welt der Unbeständigkeit. Der weite Ozean mit seinem Sandstrand hatte nichts gemein mit den zerklüfteten, seetangbehangenen Uferfelsen Maines, wohin ihre Großmutter sie immer mitgenommen hatte, als Proviant autowarme Kartoffelchips, Eiswasser in einer Thermoskanne, trockene Erdnussbuttersandwiches; in Montauk ließ man es sich gutgehen. »Schaut sie euch an, die Burgess-Boys«, sagte Helen, wenn sie ein Tablett mit Käse, Kräckern und kalten Shrimps zu ihnen herausbrachte. »Frei, frei, endlich frei.«
Nun hatten zum ersten Mal weder Jim noch Helen angerufen, um ihre Pläne mit seinen abzustimmen. »Fahren Sie trotzdem. Lernen Sie ein nettes Mädchen kennen«, sagte Rhoda.
»Rhoda hat recht«, bekräftigte Murray aus seinem Sessel. »New York ist ein Alptraum im Sommer. Diese ganzen alten Leute, die im Park auf den Bänken sitzen. Wie geschmolzene Kerzen. Und die Straßen stinken nach Müll.«
»Ich bin gern hier«, sagte Bob.
»Versteh ich ja.« Murray nickte. »Immerhin wohnen Sie in der besten Etage von ganz New York.«
»Fahren Sie«, wiederholte Rhoda. »Er ist Ihr Bruder. Und bringen Sie mir eine Muschel mit.«
Bob sprach auf Jims Mailbox. Auf Helens Mailbox. Keiner von beiden rief zurück. Beim letzten Mal sagte Bob: »Macht schon, meldet euch endlich. Ich weiß ja nicht mal, ob ihr noch lebt.« Aber natürlich lebten sie noch. Wenn nicht, hätte er es längst erfahren. Und so begriff er, dass er nach all den Jahre n F amilienanschluss nicht mehr erwünscht war.
Ein paarmal fuhr er mit Freunden in die Berkshires und einmal auch nach Cape Cod. Aber der Kummer drohte ihm das Herz abzudrücken, und es kostete ihn Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. An seinem letzten Tag auf dem Cape sah er Jim, und sein ganzer Körper begann zu kribbeln vor Glück. Die kühnen Züge, die Spiegelbrille … Da stand er, vor dem Postamt, die Arme verschränkt, und las ein Schild an einem Restaurant. He! , wollte Bob in seinem Überschwang schon rufen, als der Mann die Arme voneinander löste, sich übers Gesicht fuhr – und gar nicht Jim war, sondern ein muskelbepackter Kerl, dem ein Schlangentattoo die Wade hinaufkroch.
Als sein Bruder ihm tatsächlich über den Weg lief, wäre Bob fast an ihm vorbeigegangen. Vor der Public Library an der Fifth Avenue war das, Ecke
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