Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Forty-second Street. Bob war mit einer Frau zum Mittagessen verabredet, ein Blind Date, das ein Freund angezettelt hatte; sie arbeitete in der Bibliothek. Es war ein sehr heißer Tag, und Bob blinzelte trotz Sonnenbrille. Er hätte Jim gar nicht erkannt, wäre ihm nicht das Bild geblieben, wie der Mann, an dem er gerade vorbeigekommen war, ein Mann mit Baseballmütze und Spiegelbrille, verstohlen wegblickte. Bob drehte sich um und rief: »Jim!« Der Mann ging schneller, und Bob rannte ihm nach, Passanten wichen zur Seite. Jim, seltsam eingefallen in seiner Anzugjacke, sagte nichts. Ganz still stand er da, sein Gesicht unter der Baseballmütze reglos bis auf ein Zucken am Kiefer.
»Jimmy … « Bob wusste nicht weiter. »Jimmy, bist du krank?« Er setzte seine eigene Sonnenbrille ab, aber die Augen seines Bruders hinter den verspiegelten Gläsern konnte er trotzdem nicht sehen. Kühn war an Jims Zügen nicht mehr viel, erst als er das Kinn hob, herausfordernd, ähnelte er mehr sich selbst.
»Nein. Mir fehlt nichts.«
»Was ist los? Warum hast du nie zurückgerufen?«
Jim sah zum Himmel, dann hinter sich, dann wieder auf Bob. »Ich wollte es dieses Jahr in Montauk zur Abwechslung mal nett haben. Mit meiner Frau.« Wenn er sich den Moment in den folgenden Monaten ins Gedächtnis rief, schien es Bob, dass sein Bruder ihn nicht ein einziges Mal angeschaut hatte; ihre Unterhaltung war kurz, und Bob konnte sich hinterher an nichts mehr erinnern als an seinen eigenen bettelnden Tonfall und dann an die abschließenden Sätze von Jim, dessen Lippen dünn und fast blau waren, seine Worte langsam, überlegt, nicht laut. »Bob, ich sag’s, wie’s ist. Du hast mich schon immer wahnsinnig gemacht. Du gehst mir auf den Sack, Bob, du gehst mir dermaßen auf den Sack. Alles an dir. Ich bin so – Bob, verschwinde einfach. Mist, verschwinde einfach, okay?«
Auf diese traumwandlerische Art, die einem in manchen Situationen gegeben ist, schaffte Bob es, in einem Coffeeshop Schutz vor dem Straßenlärm zu suchen und die Frau anzurufen, mit der er verabredet war. Er sprach ruhig, höflich: Ein Notfall in der Arbeit, es tue ihm unendlich leid, er werde sich bald melden, um etwas Neues auszumachen.
Danach wanderte er blindlings durch die heißen Straßen, das Hemd schweißdurchtränkt, und zwischendurch saß er auf irgendwelchen Treppenstufen und rauchte, rauchte, rauchte.
7
Mitte August färbten sich die Wipfel der ersten Ahornbäume trotz der Hitze bereits orange. Einer, schräg über die Straße, war von der Veranda aus sichtbar, wo Susan und Mrs. Drinkwater auf ihren Gartenstühlen saßen. Kein Hauch regte sich, in der schwülen Luft hing ein schwacher Geruch nach feuchter, vergorener Erde. Die alte Dame hatte sich die Strümpfe bis auf die Knöchel hinabgerollt, ihr Kleid übers Knie gerafft und hielt die blassen dünnen Beine leicht gespreizt. »Komisch, als Kind hat einem die Hitze doch kein bisschen ausgemacht.« Mrs. Drinkwater fächelte sich mit einer Illustrierten.
Da habe sie recht, sagte Susan und trank einen Schluck von ihrem Eistee. Seit ihrem Besuch in New York, seit feststand, dass die Anklage gegen Zachary zurückgezogen war, telefonierte Susan einmal die Woche mit ihrem Sohn, und jedes Mal erfüllte der Klang seiner tiefen, kräftigen Stimme sie mit demselben Glücksgefühl, gefolgt von immer derselben lähmenden Niedergeschlagenheit. Es war vorbei – die hektische Verzweiflung nach seiner Festnahme, der Rummel vor der Demonstration (wie lange schien das her!), die grauenhafte Sorge, dass Zach zu einer Haftstrafe verurteilt werden könnte – , es war vorbei. Irgendwie wollte ihr die Tatsache nicht in den Kopf. Sie bückte sich wieder nach dem schwitzenden Glas zu ihren Füßen und sagte: »Zach arbeitet jetzt im Krankenhaus. Ehrenamtlich.«
»Sieh einer an.« Mrs. Drinkwater schob sich mit dem Handrücken die Brille höher.
»Keine Bettpfannen. Er räumt Verbandszeug in die Schränke ein, solche Sachen. Glaube ich.«
»Aber er kommt unter Menschen.«
»Ja.«
Ein paar Gärten weiter begann ein Rasenmäher zu knattern. Als das Knattern leiser wurde, so als wäre der Mäher hinterm Haus verschwunden, fügte Susan hinzu: »Ich habe vorhin zum ersten Mal seit Jahren mit Steve geredet. Ich habe ihm gesagt, wie leid es mir tut, dass ich als Ehefrau so versagt habe. Er hat furchtbar nett reagiert.« Wie sie schon befürchtet hatte, wurden ihr die Augen feucht, eine Träne rollte heraus. Sie wischte sie mit dem
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