Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Handgelenk weg.
»Das freut mich, Kindchen. Dass er nett war.« Mrs. Drinkwater nahm die Brille ab und polierte sie mit einem Papiertaschentuch. »Selbstvorwürfe sind nichts Schönes. Das kann ich Ihnen sagen.«
Die Träne löste Susans Schwermut, und sie sagte: »Aber Sie können sich doch nicht vorwerfen, dass Sie eine schlechte Ehefrau waren, oder? Ich hätte gedacht, Sie müssen die perfekte Ehefrau gewesen sein. Sie haben Ihre Familie für ihn aufgegeben.«
Mrs. Drinkwater nickte kaum merklich. »Selbstvorwürfe wegen meinen Töchtern. Ich war eine gute Ehefrau. Ich habe Carl mehr geliebt als meine Mädchen, und ich glaube nicht, dass das natürlich ist. Ich glaube, dass sie einsam waren. Wütend.« Die alte Dame setzte die Brille wieder auf und blickte eine Weile schweigend auf das Gras. Sie sagte: »Es ist ja nichts Ungewöhnliches, wissen Sie, dass ein Kind Probleme macht. Aber wenn alle beiden Kinder Probleme machen?«
Auf dem schattigen Boden unter dem Spitzahorn wimmerte der Hund im Traum. Sein Schwanz schlug einmal, dann schlief er wieder friedlich.
Susan drückte das kühle Glas für ein paar Sekunden an ihren Hals. »Die Somalier sind der Meinung, man braucht mindestens ein Dutzend Kinder. Hab ich gehört. Sie bemitleiden einen, wenn man nur zwei Kinder hat.« Und sie fügte hinzu: »Nur eins zu haben muss ihnen also völlig pervers vorkommen. Als würde man eine Ziege zur Welt bringen.«
»Ich dachte immer, dass es der katholischen Kirche vor allem darum geht, die Welt mit kleinen Katholiken zu bevölkern. Vielleicht wollen die Somalier sie mit Somaliern bevölkern.« Mrs. Drinkwater richtete ihre riesigen Brillengläser auf Susan. »Aber meine Töchter sind beide kinderlos, und das macht mir doch sehr zu schaffen.« Sie legte die Hand an die Wange. »Dass sie beide keine Mütter sein wollten. Ich sag’s Ihnen.«
Susan betrachtete ihre Schuhspitze. Sie trug immer noch die gleichen schlichten Stoffturnschuhe wie als Mädchen. Sie sagte begütigend: »Ich glaube, eine ideale Art zu leben gibt es nicht.« Und sie schaute kurz zu der alten Frau hoch. »Wenn sie keine Kinder haben, dann ist das eben so.«
»Nein«, stimmte Mrs. Drinkwater ihr bei, »die ideale Art zu leben gibt es nicht.«
»Als ich in New York war«, sagte Susan nachdenklich, »dachte ich plötzlich, vielleicht ist das das Gefühl, das die Somalier hier haben. Das ist sicher Unsinn – gut, oder vielleicht stimmt es ein klein bisschen. Ich meine hierherzukommen, wo alles völlig verwirrend für sie sein muss. Ich wusste nicht, wie man U-Bahn fährt, und alle anderen drängten an mir vorbei, weil sie es wussten. Diese ganzen Sachen, die den Leuten gar nicht mehr auffallen, weil sie sie gewöhnt sind. Ich war die ganze Zeit nur verwirrt. Kein schönes Gefühl, das können Sie mir glauben.«
Mrs. Drinkwater legte den Kopf schief wie ein Vogel.
»Und am allerfremdesten waren mir meine Brüder«, fuhr Susan fort. »Wenn bei den Somaliern die restliche Familie nachkommt, und ein paar andere sind schon eine Weile hier – vielleicht erscheinen sie ihnen dann auch fremd.« Susan kratzte sich am Knöchel. »Das war nur so ein Gedanke.«
Er habe viel mehr falsch gemacht als sie, hatte Steve zu ihr gesagt. Du bist ein anständiger, hart arbeitender Mensch, hatte er gesagt. Zach vergöttert dich.
Mrs. Drinkwater sagte: »Manchmal wünsche ich mir wirklich die alten Zeiten zurück.« Sie sah Susan an. »Mir ist gerade diese Erinnerung an Peck’s gekommen.«
»Was für eine Erinnerung an Peck’s?« Susan trank ihren Eistee, ohne hinzuhören. Sie selbst hatte Peck’s fast nie betreten. Ihre Brüder bekamen ihre Schulkleidung dort, aber Susans Kleider nähte ihre Mutter selbst. Susan musste dazu auf einem Küchenstuhl stehen, damit ihre Mutter den Saum abstecken konnte. »Halt still «, fuhr ihre Mutter sie an. »Himmelherrgott!«
Wir haben’s wirklich versucht, hatte Steve heute Morgen am Telefon gesagt. Wir hatten es beide nicht leicht als Kinder, Susan. Wir wussten beide nicht, wo es langging. Ich möchte nicht, dass du dir die Schuld gibst, hatte er gesagt.
Mrs. Drinkwater kam zum Ende. »Immer gut angezogen, die Damen bei Peck’s. Man machte sich fein, wenn man einkaufen ging. Das war damals eine Selbstverständlichkeit.«
Steves Mutter war als kleines Mädchen in dieser Stadt ganz im Norden aufgegriffen worden, ein barfüßiges, verdrecktes Straßenkind. Verwandte hatten sie aufgenommen und damit eine jahrelange Familienfehde
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