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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Buchhaltung, Versicherungen und Personal durchzurechnen. Sie rief einen Bekannten von Bekannten an, der Geschäftsräume in Manhattan vermittelte: Ein Büro im vierundzwanzigsten Stock eines Gebäudes in Downtown Manhattan stand zur Besichtigung, und falls ihm das nicht gefiel, würden sich andere Optionen finden. Es stimmte zwar, Jim schien sich weniger als gedacht über die Freiheit zu freuen, um die es ihm doch so zu tun gewesen war. Daran erinnerte Helen sich später. Und ja, irgendwann im Frühling hatte sie ein langes, helles Haar an seinem Hemd entdeckt, als sie die Wäsche für die Reinigung zusammenpackte, auch das stimmte, aber warum sollte Helen Farber Burgess über ein langes, helles Haar am Ärmel ihres Mannes nachdenken? Sie war schließlich kein Gerichtsmediziner.
    Ein paar Tage nach ihrer Begegnung mit Dorothy beim Gemüsehändler (Jim war bei einem Gerichtstermin in Atlanta) fand sie in seiner Hosentasche die Visitenkarte einer Frau, die sich als »Lebensberaterin« bezeichnete. Ihr Leben ist mein Job. Helen setzte sich aufs Bett. Ihr gefiel das Wort »Job« nicht. Ihr gefiel die ganze Sache nicht. Sie rief ihren Mann auf seinem Handy an. »Ach, diese Tusse«, sagte er. »Die hat sich dieselben Büroräume wie ich angeschaut und ihre Karte wahllos an alle verteilt.«
    »Eine Lebensberaterin schaut sich dieselben Büroräume wie du an? Wie viel Bürofläche braucht eine Lebensberaterin denn? Was ist das überhaupt, eine Lebensberaterin?«
    »Hellie, was weiß denn ich? Lass gut sein, Schatz.«
    Helen blieb sehr lange auf dem Bett sitzen. Sie dachte daran, wie schlecht Jim in letzter Zeit schlief, wie abgemagert er war. Sie überlegte, ob Bobs schäbiges Verhalten – er schien sich von einem Tag auf den anderen von Jim abgewandt zu haben, so wie Zach sich von Susan abgenabelt hatte – nicht damit zusammenhing. Fast hätte sie Bob angerufen, aber sie nahm ihm sein Fernbleiben übel. Schließlich griff sie zum Hörer und bat den Maklerbekannten, die Büroräume ansehen zu dürfen, die Jim besichtigt hatte, und der Makler klang verwirrt und sagte: »Mrs. Burgess, Ihr Mann hat keine Büroräume besichtigt.«
    Als sie Jim auf seinem Handy erreichte, zitterte sie. Sie hörte Jim zögern und dann leise sagen: »Wir müssen reden.« Eine Sekunde, dann sagte er noch leiser: »Ich bin morgen wieder zurück. Dann reden wir.«
    »Ich möchte, dass du jetzt gleich heimfliegst. Ich möchte jetzt reden«, sagte Helen.
    »Morgen, Hellie. Ich kann hier nicht ohne die eidesstattliche Aussage weg.«
    Helens Herz jagte wie das eines Vogels, in ihrer Nase und am Kinn kribbelte es, als sie auflegte. Sie spürte einen merkwürdigen Drang, loszufahren und Vorräte zu kaufen, Mineralwasser und Taschenlampen, Batterien, Milch und Eier wie bei den Hurrikanwarnungen. Aber sie blieb zu Hause. Sie aß etwas kaltes Huhn vor dem Fernseher und wartete darauf, dass ihr Mann zur Tür hereinkam.

9
    In Maine färbten sich immer mehr Ahornbäume rot, die Birken bekamen erste gelbe Blätter. Die Tage waren warm, aber abends kühlte es stark ab, und wenn die Dunkelheit kam, holten die Leute ihre Wollpullover heraus. Heute Abend hatte Abdikarim seine weite Steppweste übergezogen. Vorgebeugt saß er da und hörte Haweeya und ihrem Mann zu; die Kinder waren im Bett. Die Älteste ging jetzt in die fünfte Klasse, und sie war eine gute Tochter, anmutig und gehorsam. Aber sie brachte Geschichten mit nach Hause, von zwölfjährigen Mädchen in so knappen Tanktops, dass man fast die ganze Brust sah, die sich auf dem Korridor oder hinter der Schule mit Jungen küssten. Haweeya hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, aber sie hatte nicht mit ihren Gefühlen dabei gerechnet, dieser düsteren, drängenden Angst.
    »Er kümmert sich um uns, bis wir uns eingelebt haben«, sagte sie nun schon zum x-ten Mal. Ihr Bruder lebte in Nairobi, wo es eine Somali-Gemeinschaft gab.
    Omad wollte nicht nach Nairobi ziehen. »Da hassen sie uns doch auch.«
    Haweeya nickte. »Aber du hast Rashid und Noda Oya dort, und viele Vettern und Kusinen, und unsere Kinder können Somali bleiben. Hier können sie Muslime bleiben. Aber sie können keine Somali bleiben. Sie werden zu Somali-Amerikanern, und das will ich nicht.«
    Abdikarim würde nicht mit ihnen gehen, das wusste er. Seine Kraft für Neuanfänge war erschöpft. Er hatte sein Café, seine Tochter in Nashville; seine Enkel würden ihn bald in Shirley Falls besuchen kommen, vielleicht würden sie sogar

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