Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
ein in das öffentliche Bild. Helen hatte das intuitiv begriffen. Sie war großartig gewesen in der Rolle. Dass einige aus ihrem Bekanntenkreis in West Hartford von ihr abgerückt waren, hatte Helen nichts ausgemacht. Sie glaubte aus ganzer Seele an Jims Verteidigung von Wally und an Wallys Anrecht auf eine solche Verteidigung. Jedes einzelne Foto von ihr – sie und Jim in einem Restaurant, am Flughafen, beim Aussteigen aus einem Taxi – hatte haargenau den richtigen Akzent erhalten durch Helens jeweiliges Kostüm, Cocktailkleid oder die legere Hose, die sie trug. Was leicht in billigen Rummel hätte ausarten können, hatte Würde bekommen durch das Auftreten von Jim und Helen Burgess. Das hatte Helen damals empfunden, und sie glaubte es auch noch heute.
Was für eine aufregende Zeit es gewesen war! Helen bog die Füße vor und zurück. Ihre Gespräche mit Jim spätnachts noch, wenn die Kinder endlich in ihren Betten lagen und sie gemeinsam den Verhandlungstag rekapitulierten. Jim fragte sie nach ihrer Meinung. Sie sagte sie ihm. Sie waren Partner, sie waren Komplizen. Die Leute sagten immer, welche Belastung das für ihre Ehe sein musste, ein solcher Prozess, und Jim und Helen mussten an sich halten, um nicht laut loszulachen, sich nicht zu verraten: im Gegenteil, oh, ganz im Gegenteil. Helen streckte den Rücken, schlug die Augen auf. Sie war sein Ein und Alles. Wie oft hatte er ihr das im Lauf der letzten dreißig Jahre zugeflüstert. Sie packte ihre Sachen zusammen und bummelte zurück zum Hotel. Neben dem Krocket-Rasen plätscherte das Wasser sanft über ein paar große Steine in einem Bach. Ein Paar – die Frau in einem langen weißen Rock und einer blassblauen Bluse – spielte Krocket, und man hörte das gedämpfte Klacken, mit dem die Kugeln übers Gras getrieben wurden. Der blaue Himmel, die üppig wuchernden tropischen Blüten, alles schien den Gästen auf ihren Wegen zuzuflüstern: Seid glücklich. Seid glücklich. Seid es jetzt. Helen dachte: Genau das habe ich vor.
Seine Stimme drang bis auf den Gang hinaus. »Hast du eigentlich nur Scheiße im Hirn?« Ihr Mann schrie immer wieder dasselbe. »Du hast Scheiße im Hirn, Bob! Nichts als Scheiße!« Sie steckte den Schlüssel ins Schloss: »Jim, hör auf.«
Er stand neben dem Bett und wandte ihr sein puterrotes Gesicht zu; seine Hand hieb auf die Luft ein, als hätte er ohne weiteres auch sie geschlagen, wenn sie in Reichweite gewesen wäre. »Scheiße hast du im Hirn, du Psychopath! Einen Riesenhaufen Scheiße!« Dunkle Flecken hatten sich auf seinem blauen Golfhemd ausgebreitet, der Schweiß lief ihm in Bächen übers Gesicht. Er brüllte schon wieder ins Telefon.
Helen setzte sich vor die Schale mit den Zitronen. Ihr Mund war plötzlich wie ausgedörrt. Sie sah zu, wie ihr Mann das Handy aufs Bett knallte, hörte ihn weiterbrüllen: »Scheiße und nichts als Scheiße! Mein Gott, dieser Psychopath hat Scheiße im Hirn und sonst nichts!« Ein Erinnerungsfetzen blitzte in ihrem Kopf auf: Bob, wie er ihr von seinem Nachbarn erzählte, der immer dasselbe brüllte, wenn er wütend auf seine Frau war. Du hast wohl den Arsch offen, hatte er das nicht geschrien? Bevor sie ihn in Handschellen abgeführt hatten. Mit so einem Mann war sie also verheiratet.
Eine seltsame Ruhe kam über sie. Sie dachte: Das in der Schale hier vor mir sind Zitronen, aber aus irgendeinem Grund erreicht diese Tatsache meinen Verstand nicht. Und ihr Verstand fragte sie: Was soll ich tun, Helen? Einfach ruhig bleiben, antwortete sie ihrem Verstand.
Jim rammte sich die Faust in die Handfläche. Er rannte im Kreis, während Helen völlig still dasaß. Schließlich fragte er: »Möchtest du vielleicht wissen, was passiert ist?«
Helen sagte: »Ich möchte, dass du nie wieder so rumbrüllst. Das möchte ich. Sonst gehe ich durch diese Tür und fliege nach Hause.«
Er ließ sich aufs Bett fallen und wischte sich das Gesicht mit dem Hemdsaum. Mit dürrer, präziser Stimme teilte er ihr mit, dass Bob um ein Haar eine somalische Frau überfahren hätte. Dass Bob schuld daran war, dass Zachs Gesicht von der Titelseite der Zeitung grinste. Dass Bob noch nicht mal mit Zach geredet hatte. Und jetzt weigerte er sich, sich wieder hinters Steuer zu setzen, er wollte zurück nach New York fliegen und ihr Auto in Maine lassen, und als Jim ihn gefragt hatte, wie dann ihr Wagen zurückkommen solle, hatte Bob gesagt, keine Ahnung, ich fahre ihn jedenfalls nicht, ich setze mich in kein Auto mehr,
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