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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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und ich fliege heute Abend nach Hause, dieser Charlie Tibbetts wird ohne mich klarkommen müssen. »Mein Bruder Bob«, sagte Jim mit leiser Stimme, »hat nichts als Scheiße unter seiner Schädeldecke.«
    »Dein Bruder Bob«, sagte Helen, »hat als Vierjähriger ein schweres Trauma erlitten. Ich bin sehr erstaunt und sehr enttäuscht, dass du nicht begreifst, warum er sich unter den gegebenen Umständen in kein Auto mehr setzen will.« Sie fügte hinzu: »Auch wenn es alles andere als intelligent von ihm war, eine Somalierin zu überfahren.«
    »Somali.«
    »Was?«
    »Sie heißen Somali. Nicht Somalier.«
    Helen lehnte sich ein Stück vor: »Hältst du das für den geeigneten Zeitpunkt, meine Wortwahl zu korrigieren?«
    »Ach, Helen.« Jim schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder; die Geste hatte etwas Abschätziges. »Bob hat Mist gebaut, und wenn wir hochfahren müssen, um das Ruder rumzureißen, solltest du wenigstens wissen, wie die Leute heißen.«
    »Ich fahr da nicht hoch.«
    »Ich will dich aber dabeihaben.«
    Mit einem Mal erfasste Helen ein überwältigender Neid auf das krocketspielende Paar draußen, auf die Frau mit dem langen weißen Rock, der sich im Wind bauschte. Sie sah sich selbst, wie sie vor ein paar Stunden noch hier gesessen und auf Jim gewartet hatte, auf den Blick, mit dem er sie ansehen würde …
    Er sah sie nicht an. Er schaute zum Fenster, und sie sah nur sein Profil, das Blau in seinem Auge, das das Licht einfing. Alle Straffheit schien aus seinen Zügen gewichen. »Weißt du, was Bob zu mir gesagt hat, nachdem der Freispruch für Wally durch war?« Er blickte flüchtig in Helens Richtung, sprach dann wieder zum Fenster hin. »Er hat gesagt: ›Jim, das war großartig. Du hast tolle Arbeit geleistet. Aber du hast den Mann um sein Schicksal betrogen.‹«
    Sonnenlicht lag träge im Zimmer. Helen schaute auf die Zitronen in ihrer Schale, auf die Zeitschriften, die das Zimmermädchen auf dem Tisch aufgefächert hatte. Sie schaute auf ihren Mann, der vorgebeugt auf der Bettkante saß, auf sein nasses und verknittertes Golfhemd. Sie wollte schon den Arm nach ihm ausstrecken, ihm sagen: Ach, Liebling, versuchen wir uns doch zu entspannen, machen wir das Beste aus unserer restlichen Zeit hier. Aber sein Ausdruck, als er ihr den Kopf zuwandte, war so fremd, so verzerrt, dass sie sich unsicher war, ob sie diesen Mann auf der Straße überhaupt erkannt hätte. Ihr Arm sank herab.
    Jim erhob sich. »Das hat er zu mir gesagt, Helen.« Sein Gesicht sah unnatürlich aus, flehend starrte er sie an. Und dann kreuzte er die Arme so, dass seine Hände auf seinen Schultern zu liegen kamen, ihre geheime Zeichensprache seit vielen Jahren, und Helen – ob sie es nicht konnte oder nicht wollte, wusste sie selbst nicht, jedenfalls stand sie nicht auf und ging zu ihm.

8
    Es stimmte ja, es stimmte: Bob war zu nichts nütze. Reglos saß er auf Susans Couch. »Du warst noch nie zu was nütze«, hatte Susan ihn angeschrien, bevor sie weggefahren war. Der arme Hund kam und bohrte seine lange Schnauze unter Bobs Knie. »Ist ja gut«, murmelte er, und der Hund legte sich vor seine Füße. Er sah auf die Uhr – noch nicht Mittag. Mit vorsichtigen Schritten ging er hinaus auf die Veranda, wo er sich auf die Stufen setzte und rauchte. Seine Beine hörten nicht auf zu zittern. Ein Windstoß riss gelbe Blätter von den Zweigen des Spitzahorns und trieb sie über den Boden zur Veranda. Bob drückte seine Zigarette in das angewehte Laub, trat sie mit wackeligem Fuß aus und steckte sich die nächste an. Ein Auto bremste und bog in die Einfahrt ein.
    Das Auto war klein und nicht neu und lag sehr tief. Die Frau am Steuer schien groß zu sein; sie musste sich erst einmal hochhieven, ehe sie aussteigen konnte. Sie war etwa in Bobs Alter, mit einer Brille, die ihr die Nase hinunterrutschte. Ihr Haar, dunkles Blond mit helleren Strähnen dazwischen, war unordentlich nach hinten gesteckt, und ihr Mantel war weit geschnitten, eine Art Pfeffer-und-Salz-Muster. Sie kam Bob auf eine Weise vertraut vor, wie es ihm mit Leuten aus Maine manchmal passierte.
    »Hallo«, sagte sie. Sie ging auf ihn zu und schob dabei die Brille höher. »Ich bin Margaret Estaver. Sind Sie Zacharys Onkel? Nein, bitte, bleiben Sie sitzen.« Zu seiner Überraschung setzte sie sich neben ihn auf die Stufe.
    Er drückte seine Zigarette aus und streckte ihr die Hand hin. Sie schüttelte sie, was nicht ganz einfach war, so, wie sie saßen. »Sind Sie eine

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