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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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Schlückchen Wein. »Machen Sie einen Doppelten draus?«, bat sie nach einem prüfenden Blick auf das Whiskeyglas, das der Barkeeper neben sie hingestellt hatte. Bob hatte sich kläglich angehört am Telefon. Der Barkeeper nahm das Glas mit, stellte es wieder auf seinen Platz. »Ja, machen Sie einen Deckel«, sagte Pam.
    Vor Jahren – als sie mit Bob verheiratet war – hatte Pam als Forschungsassistentin bei einem Parasitologen gearbeitet, dessen Spezialgebiet Tropenkrankheiten waren. Pam hatte ihre Tage in einem Labor verbracht, wo sie durch ein Elektronenmikroskop die Zellen von Schistosoma betrachtete, und weil sie Fakten liebte, wie ein Maler Farben liebt, und weil die Präzision, auf die Naturwissenschaften abzielen, immer ein Prickeln in ihr auslöste, hatte sie ihre Tage sehr gern in dem Labor verbracht. Als sie aus den Fernsehnachrichten von dem Vorfall in Shirley Falls erfuhr, als sie den Imam die Ladenmoschee verlassen und eine beklemmend menschenleere Straße entlanggehen sah, stürmten alle möglichen Gefühle auf sie ein, nicht zuletzt eine fast schon außerkörperliche Sehnsucht nach dieser Stadt, die sie einmal gut gekannt hatte, aber auch – und beinahe augenblicklich – Sorge um die Somali. Sie hatte sich sofort kundig gemacht: Ja, bei diesen Flüchtlingen, die aus den südlichen Regionen Somalias stammten, waren Eier von Schistosoma haematobium im Urin gefunden worden, aber das größere Problem war nicht die Bilharziose, sondern – nicht überraschend für Pam – die Malaria; bevor sie in die Vereinigten Staaten einreisen durften, bekamen sie eine einfache Dosis Sulfadoxin-Pyrimethamin gegen Malaria-Parasitämie verabreicht, außerdem Albendazol als Therapie gegen Darmparasiten. Noch weniger gefiel es Pam allerdings, dass unter den somalischen Bantu – einer dunkelhäutigeren Volksgruppe, in Somalia offenbar ausgegrenzt, weil sie vor Jahrhunderten als Sklaven aus Tansania und Mosambik gekommen waren – wesentlich mehr Menschen an Bilharziose litten und, nach allem, was Pam den Veröffentlichungen der Internationalen Organisation für Migration entnehmen konnte, auch an schweren seelischen Störungen wie Traumatisierungen und Depressionen. Die somalischen Bantu, las sie, pflegten allerlei Aberglauben: So verbrannten sie etwa erkrankte Hautpartien oder zogen durchfallgeplagten Kleinkindern die Milchzähne.
    Auch jetzt, in der Erinnerung, beschlich Pam wieder das gleiche Gefühl wie beim Lesen: Ich lebe das falsche Leben . Ein Gedanke ohne jeden Sinn. Es stimmte, sie vermisste die Laborgerüche: Aceton, Paraffin, Alkohol, Formaldehyd. Sie vermisste das Zischen des Bunsenbrenners, die Objektträger und Pipetten, diese ganz eigene, tiefe Konzentration der Menschen um sie herum. Aber sie hatte jetzt Zwillinge – mit weißer Haut, makellosen Zähnen, ganz ohne Brandnarben – , und die Arbeit im Labor gehörte zu einem früheren Leben. Dennoch, all die Probleme, parasitologische und psychische, mit denen diese Gruppe von Flüchtlingen zu kämpfen hatte, weckte in Pam eine Sehnsucht nach irgendeinem anderen Leben, als sie es führte, einem Leben, das sich nicht so seltsam falsch anfühlte.
    Ihr Leben dieser Tage, das war ihr Reihenhaus, ihre Jungen und die Privatschule ihrer Jungen, ihr Mann Ted, der in New Jersey die dortige Niederlassung einer großen pharmazeutischen Firma leitete und deshalb gegen den Strom pendeln konnte, ihr Teilzeitjob im Krankenhaus sowie ein Sozialleben, das endlose Lieferungen aus der chemischen Reinigung erforderlich zu machen schien. Trotzdem hatte Pam oft Heimweh. Wonach? Das wusste sie selbst nicht, und es beschämte sie. Pam trank noch einen Schluck, drehte sich um, und da war er, der liebe Bob, wie ein großer Bernhardiner kam er durch das Bootshaus getrottet. Fehlte nur das Rumfass vor der Brust, und er hätte sich durchs Herbstlaub buddeln und jemanden retten können. Ach, Bobby!
    »Man möchte meinen«, raunte sie und bewegte den Kopf in Richtung der Deutschen, die erst jetzt ein wenig von ihnen abrückten, »wer zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen hat, sollte sich etwas mehr zurücknehmen.«
    »So ein Blödsinn«, sagte Bob freundlich. Er inspizierte seinen Whiskey, schwenkte ihn langsam. »Wir haben jede Menge Kriege vom Zaun gebrochen, und nehmen wir uns etwa zurück?«
    »Auch wahr. Und du bist erst seit gestern Abend wieder da? Erzähl.« Den Kopf zu ihm geneigt, hörte sie aufmerksam zu, ließ sich zurückversetzen in das kleine Shirley Falls, wo sie seit

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