Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
mir Zigaretten und eine Flasche Wein verkauft hat, war eine Somali – das hab ich mir erst hinterher klargemacht, sie hatte kein Kopftuch auf – , und sie hat mir die Tüte zum Einpacken hingeschoben, als hätte ich von ihr verlangt, dass sie Hundescheiße anfasst. Und solange sie kein Englisch sprechen, ist ihnen der Großteil der Jobs versperrt. Nicht wenige von ihnen sind Analphabeten – ach ja, und bis 1972 hatten sie nicht mal eine eigene Schriftsprache, ist das zu glauben? Und in den Flüchtlingslagern, in denen sie oft jahrelang gesessen haben, dürfte es schwierig bis unmöglich gewesen sein, irgendeine Art von Ausbildung zu bekommen.«
»Hörst du jetzt auf?«, sagte Jim. »Du machst mich krank. Sitzt da und bombardierst mich mit bruchstückhaften Fakten. Und welche Jobs denn bitte schön? In Shirley Falls gibt es doch gar keine Jobs. Normalerweise bewegen sich Migranten in Richtung der Jobs.«
»Ich denke, sie kommen, weil sie Sicherheit suchen. Ich erzähl dir das alles wegen deiner Rede. Diese Leute sind durch die Hölle gegangen, und das solltest du wissen, wenn du auf der Kundgebung reden willst. Auch wenn es dich krank macht. Erst der Alptraum in Somalia, und dann die Ungewissheit in den Lagern. Behalt’s einfach im Hinterkopf, ja?«
»Was noch?«
»Ich sollte doch aufhören.«
»Okay, jetzt bitte ich dich, weiterzureden.« Jim starrte für einen Moment an die Decke, als müsste er eine ungeheure Gereiztheit unterdrücken. »Aber deine Quellen sind hoffentlich zuverlässig. Ich halte keine Reden mehr, und ich kann gut drauf verzichten, auf die Nase zu fallen. Falls du es noch nicht wusstest, ich bin keiner, der gern auf die Nase fällt.«
Bob nickte. »Dann solltest du wissen, dass viele Leute in Shirley Falls glauben, an die Somali würden Autogutscheine verteilt – stimmt nicht. Oder sie wären reine Sozialhilfeschnorrer – stimmt nur teilweise. Außerdem ist es unter Somali unhöflich, jemandem direkt ins Gesicht zu schauen, weshalb viele Leute – das beste Beispiel ist unsere Schwester – sie für arrogant oder hinterhältig halten. Sie sind es gewohnt zu feilschen, und das mögen die Leute nicht. Die Einheimischen möchten, dass sie sich dankbar zeigen, aber sie wirken nicht übermäßig dankbar. Zwischenfälle in Schulen hat es natürlich auch gegeben. Der Sportunterricht ist ein Problem. Die Mädchen wollen sich nicht umziehen, und kurze Turnhosen dürfen sie sowieso nicht tragen. Man versucht, sich zusammenzuraufen, verstehst du? Komitees für dieses und jenes.«
Jim hielt beide Hände in die Höhe. »Tu mir den Gefallen und schreib das alles auf. Und schick mir meine Munition per E-Mail. Dann lass ich mir ein paar trostreiche Sätze einfallen. Und jetzt verschwinde. Ich hab zu arbeiten.«
»Arbeiten?« Bob sah sich um, bevor er sich schließlich erhob. »Hast du nicht gesagt, du hättest die Schnauze voll von dem Job? Wann hast du das gesagt? Letztes Jahr? Ich weiß es nicht mehr.« Er schwang sich den Rucksack auf die Schultern. »Aber du hast gesagt, du hättest seit vier Jahren keinen Gerichtssaal mehr von innen gesehen. Und all die großen Verfahren werden per Deal beigelegt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das gut für dich ist, Jimmy.«
Jim betrachtete aufmerksam das Blatt Papier in seiner Hand. »Was zum Henker bringt dich auf den Gedanken, du hättest auch nur den leisesten Schimmer von irgendetwas?«
Bob, schon fast an der Tür, drehte sich um. »Ich wiederhole nur, was du mal zu mir gesagt hast. Ich glaube, du hast eine große Begabung für den Gerichtssaal. Du solltest sie nutzen. Aber was weiß ich schon … «
»Nichts weißt du.« Jim warf den Kugelschreiber auf den Tisch. »Du hast keine Ahnung, was es heißt, in einem Haus für Erwachsene zu leben statt in einem Studentenwohnheim. Keine Ahnung von den Kosten für private Kindergärten und Schulen und Universitäten und, und, und. Oder für Haushälterinnen oder Gärtner oder dafür, seine Ehefrau halbwegs … Gar nichts weißt du, du schwachsinniger Kretin. Hörst du, ich muss arbeiten. Verzieh dich.«
Bob zögerte, dann hob er eine Hand. »Ist ja gut«, sagte er. »Bin schon weg.«
8
In Shirley Falls waren die Tage jetzt kurz, die Sonne stand tief; wenn eine Wolkendecke über der kleinen Stadt lag, hatte man das Gefühl, dass die Dämmerung gleich nach dem Mittagessen einsetzte, und wenn die Dunkelheit dann kam, war es stockfinster. Die meisten Menschen, die hier lebten, hatten ihr ganzes Leben hier
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