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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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verbracht und waren die Dunkelheit um diese Jahreszeit gewöhnt, was nicht hieß, dass sie sie mochten. Sie wechselten Bemerkungen darüber, wenn sie sich im Lebensmittelmarkt oder auf der Treppe zum Postamt begegneten, oft gefolgt von ein paar Worten zur bevorstehenden Ferienzeit; manche freuten sich darauf, viele nicht. Der Spritpreis stieg, und Ferien kosteten Geld.
    Über die Somali sprach ein Teil der Stadtbewohner gar nicht mehr. Sie waren etwas, das ertragen sein wollte, wie ein harter Winter, die hohen Benzinpreise oder ein missratener Sprössling. Andere waren mitteilsamer. In der Zeitung wurde der Leserbrief einer Frau abgedruckt: »Mir ist jetzt klargeworden, was mich an den Somali in unserer Stadt stört. Ihre Sprache ist anders, und ich mag ihren Klang nicht. Mir gefällt der Mainer Dialekt. › You cahn’t get they-ah from he-yah ‹ – jeder weiß, dass man hier so redet. Das wird verschwinden. Es macht mir Angst, unseren Staat auf diese Weise verändert zu sehen.« (Jim hatte die E-Mail unter dem Betreff »Weiße Rassistenzicke will Eingeborenensprache retten« an Bob weitergeleitet.) Andere erzählten sich, welch nette Farbkleckse die leuchtenden Umhänge der Somali-Frauen abgaben, jetzt, wo Shirley Falls so grau und bedrückend geworden war: dieses kleine Mädel neulich in der Bücherei, mit Burka, aber bildhübsch, alle Achtung!
    Aber unter den Verantwortlichen der Stadt machte sich ein einschneidenderes Gefühl breit – das der Panik. Seit ein paar Jahren gab es nun schon diesen ständigen Kampf; beinahe täglich erschienen Somali-Frauen in der City Hall, ohne ein Wort Englisch, nicht in der Lage, ein Formular für Mietzuschuss oder Sozialhilfe auszufüllen oder auch nur die Geburtsdaten ihrer Kinder anzugeben (»geboren in der Jahreszeit der Sonne«, sagte beispielsweise einer der raren Dolmetscher, und so wurde bei einem Kind nach dem anderen der 1. Januar als Tag der Geburt eingetragen und das Jahr geschätzt). Englischkurse für Erwachsene wurden eingerichtet und anfangs nur sehr schlecht besucht, die Frauen saßen lustlos herum, während ihre Kinder nebenan spielten; Sozialarbeiter eigneten sich mühevoll ein paar somalische Wörter an ( subax wanaagsan – »Guten Morgen«; iska waran – »Wie geht es Ihnen?«). Es war ein mühsames Geschäft, herauszufinden, wer diese Menschen waren und was sie benötigten, und als nun, nach all dem zähen Ringen, die Berichte über die Sache mit dem Schweinekopf sich über den Staat, das Land, Teile der Welt ausbreiteten, hatten sie das Gefühl, von einer über die Flussufer schwappenden Welle überspült zu werden. Über Nacht war Shirley Falls zu einem Ort der Intoleranz, der Angst, des Ungeistes abgestempelt worden. Und das stimmte ganz einfach nicht.
    Die Kirchenvertreter, die nur bedingt hilfreich gewesen waren – und das galt für Margaret Estaver und Rabbi Goldman ebenso wie für drei katholische Priester und einen Pfarrer der Freikirche – , erkannten jetzt, dass man es mit einer veritablen Krise zu tun hatte. Man stellte sich ihr. Zumindest bemühte man sich. Der Stadtrat, der Stadtdirektor, der Bürgermeister und natürlich Polizeichef Gerry O’Hare, alle mit ihren ganz unterschiedlichen Aufgabenbereichen, hatten den Ernst der Lage inzwischen ebenfalls erkannt. Eine Besprechung jagte die andere, während die Vorbereitungen für die Kundgebung »Für ein tolerantes Miteinander« liefen. Es gab Spannungen – jede Menge. Der Bürgermeister versprach, dass in zwei Wochen, an einem Samstag Anfang November, der Roosevelt Park von friedliebenden Menschen bevölkert sein würde.
    Und dann trat das Befürchtete ein. Eine weiße Rassistengruppierung, die sich »Weltkirche des Volkes« nannte, suchte um die Genehmigung nach, sich am selben Tag in der Stadt zu versammeln. Als Susan durch Charlie Tibbetts davon erfuhr, flüsterte sie ins Telefon: »Großer Gott, jetzt lynchen sie ihn.« Niemand lyncht Zachary, entgegnete ihr Charlie (mit müder Stimme) – und schon gar nicht die Weltkirche des Volkes, für die Zach schließlich ein Held sei. »Umso schlimmer«, schrie Susan. »Warum muss die Stadt so etwas überhaupt genehmigen, warum sagen sie nicht einfach nein?«
    Weil das hier Amerika war. Jeder hatte das Recht, sich zu versammeln, und es empfahl sich für Shirley Falls, die Genehmigung zu erteilen, um alles besser unter Kontrolle zu haben. Die Genehmigung beschränkte sich auf das Gemeindezentrum, das am Stadtrand lag, weit vom Roosevelt Park

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