Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
tobte sich in wütenden Böen aus, und die Luft in New York wurde kalt, aber nicht frostig. Helen arbeitete im Garten, setzte Tulpen- und Krokuszwiebeln. Ihr Zorn auf die Welt war zu sanfter Melancholie kondensiert, die sie einhüllte wie eine Decke. An den Nachmittagen fegte sie die Blätter von der Vordertreppe und plauderte mit den Nachbarn, die vorüberkamen. Dem Homosexuellen, der so adrett und amüsant war, dem großen, würdevollen asiatischen Arzt, der grässlichen Frau mit den zu blonden Haaren, die bei der Stadt arbeitete, oder dem Ehepaar ein paar Häuser weiter, das sein erstes Kind erwartete, und natürlich Deborah-mit und Debra-ohne. Für alle diese Leute nahm Helen sich Zeit. Es gab ihr Halt, denn dies war die Tageszeit, zu der die Kinder immer aus der Schule heimgekommen waren und im Gittertor Larrys Schlüssel geklappert hatte.
In einem Jahr sollte der würdevolle asiatische Arzt an einem Herzinfarkt verstorben sein, der schwule Mann sollte einen Elternteil verloren und das Ehepaar sein Kind bekommen haben und in eine erschwinglichere Gegend umgezogen sein, aber noch war das alles nicht passiert. Die Veränderungen in Helens eigenem Leben waren noch nicht passiert (auch wenn es ihr so erschien, jetzt, wo Larry aus dem Haus war, für sie der größte Umbruch seit der Geburt ihrer Kinder), und so fegte sie die Vordertreppe und plauderte, ging hinein, schickte Ana früher weg und hatte das Haus – bis Jim zurückkam – für sich. An diese späten Nachmittage sollte sie sich einmal auf ganz ähnliche Weise erinnern wie an die Weihnachtsabende, als die Kinder klein waren und Helen immer noch ein paar Augenblicke allein im Wohnzimmer verweilt hatte, um den Baum mit seinen Lichtern und Geschenken zu betrachten, und sich dabei so friedlich gefühlt hatte und so erfüllt, dass ihr Tränen in die Augen getreten waren, und jetzt gab es diese Weihnachtsabende nicht mehr; die Kinder waren nicht mehr klein, Emily würde dieses Jahr vielleicht gar nicht nach Hause kommen, sondern bei der Familie ihres Freundes feiern – nein, es war ein zu seltsamer Gedanke, dass solche Weihnachten ein für alle Mal Vergangenheit waren.
Aber das hier war ihr Zuhause, ihres und Jims. Sie ging durch die Räume, wenn Ana fort war, durch das Wohnzimmer mit seinen originalen alten Deckenleuchten, den oberen Salon, dessen Mahagonipaneele in den letzten Strahlen der Nachmittagssonne aufleuchteten, das Schlafzimmer mit seiner Terrasse hinter den gläsernen Flügeltüren. Das Bittersüß, das sich am Geländer emporrankte, trug jetzt orangefarbene haselnussförmige Beeren, die auf den aufgeplatzten und verschnörkelten gelben Schalenresten saßen, und wo die Blätter abgefallen waren, sah man die schönen braunen Reben. Später würde sie sich erinnern, dass Jim in diesem Herbst an manchem Abend mit einer Extraportion Herzlichkeit zur Tür hereingekommen war, manchmal aus heiterem Himmel seine Arme um sie geworfen und gesagt hatte: »Hellie, du bist so gut. Ich liebe dich.« Es machte den Schmerz über das stille Haus etwas erträglicher. Sie kam sich wieder jung und grazil vor. Und trotzdem meinte sie zwischendurch eine Bedürftigkeit an Jim wahrzunehmen, die sie bei ihm nie gekannt hatte. »Hellie, du darfst mich nie verlassen, ja?« Oder: »Du liebst mich doch, egal was kommt, oder?«
»Sei nicht dumm«, antwortete sie dann. Aber sie spürte, dass sie instinktiv zurückwich, wenn er so war, und insgeheim bestürzte sie das. Eine liebende Ehefrau reagierte liebevoll, und sie war immer eine liebende Ehefrau gewesen. Er erwähnte jetzt öfter den Wally-Packer-Prozess, wärmte vor ihr – als wäre sie nicht dabei gewesen – seine größten Momente auf. »Mit der Rechten hab ich den Ankläger zertrümmert. Auf die Bretter geschickt. Er hat es nicht mal kommen sehen.« Das waren nicht mehr die lustigen Reminiszenzen von früher. Oder? Die Leere ihres großen Hauses, jetzt, wo die Tage kürzer wurden, verunsicherte sie.
»Ich brauche einen Job«, sagte sie eines Morgens beim Frühstück.
»Gute Idee.« Jim schien keineswegs entsetzt bei der Vorstellung, und Helen fühlte sich leise gekränkt.
»Na ja, leicht wird das nicht«, sagte sie.
»Wieso?«
»Vor hundert Jahren, als ich – wie kurz auch immer – eine passable Buchhalterin war, hatten sie noch nicht alles auf Computer umgestellt. In dieser Welt bin ich verloren.«
»Dann drückst du eben noch mal die Schulbank«, sagte Jim.
Helen trank ihren Kaffee, stellte ihn ab. Sie
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