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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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entfernt. All das habe nicht mehr viel mit Zach zu tun, erklärte ihr Charlie. Zach sei eines Vergehens angeklagt, Punkt. Alles andere würde sich beruhigen.
    Die Lage beruhigte sich nicht. Täglich veröffentlichten die Zeitungen Leitartikel aufgebrachter Liberaler aus Maine, aber auch einiger Konservativer, die in vorsichtig formulierten Beiträgen darauf hinwiesen, dass man von den Somali wie von allen anderen, die das Glück hatten, hier leben zu dürfen, erwarten könne, sich um Jobs und Ausbildung zu bemühen und ihre Steuern zu zahlen. Woraufhin postwendend Leserbriefe darauf hinwiesen, dass jeder arbeitende Somali sehr wohl seine Steuern zahle und unser Land auf die Freiheit eines jeden gegründet sei, die Religion auszuüben, nach der ihm der Sinn stehe, und so weiter und so fort. Als bekannt wurde, dass die Kundgebung im Wettstreit mit einer rassistischen Gruppierung stand, nahm das Engagement noch mehr zu; sämtliche Register wurden gezogen.
    Man schickte Teams von Bürgerrechtlern in die Schulen. Das Ziel der Kundgebung wurde erklärt. Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika wurde erklärt. Man bemühte sich, die historischen Hintergründe der somalischen Probleme zu beleuchten. Die Gemeinden aller Konfessionen in der Stadt wurden um Hilfe gebeten. Die beiden fundamentalistischen Kirchen reagierten nicht, aber alle anderen; die Entrüstung schlug hohe Wogen. Niemand durfte den Menschen in Maine vorschreiben, wie sie zu leben und zu denken hatten; die Vorstellung, Shirley Falls könnte eine Brutstätte für religiöse Eiferer sein, empörte alle. Hochschulen und Universitäten mischten sich ein, Bürgerorganisationen, Gruppierungen älterer Mitbürger, Menschen unterschiedlichster Couleur schienen der Meinung zu sein, dass die Somali verdammt noch mal das gleiche Recht hatten, hier zu leben, wie andere Volksgruppen vor ihnen, die Frankokanadier, davor die Iren.
    Was im Internet zusammengeschrieben wurde, stand auf einem ganz anderen Blatt, und Gerry O’Hare trat der Schweiß auf die Stirn, wenn er vor seinem Computerbildschirm saß und sich durch die verschiedenen Websites scrollte. Er hatte noch nie jemanden getroffen, der den Holocaust als eine der glorreichsten Perioden der Geschichte bezeichnete und dafür plädierte, die Somali in Shirley Falls in eigens für sie aufgestellte Verbrennungsöfen zu schicken. Es gab ihm das Gefühl, im Grunde nichts über die Welt zu wissen. Er selbst war zu jung gewesen für Vietnam, aber er kannte Männer, die dort gekämpft hatten, und er sah die Resultate; ein paar von ihnen wohnten gleich neben den Somali unten am Fluss, psychische Wracks, zu keiner geregelten Arbeit mehr in der Lage. Und es war ja nicht so, dass Gerry O’Hare nicht selber so einiges zu sehen bekommen hätte: Kinder, die über Nacht in Hundehütten gesperrt wurden oder Brandnarben an ihren kleinen Händen trugen, weil ihre Eltern sie auf die Herdplatte drückten, Frauen, denen rasende Ehemänner die Haare ausgerissen hatten, und erst vor ein paar Jahren war ein schwuler Obdachloser in Brand gesteckt und in den Fluss geworfen worden. So etwas blieb nicht in den Kleidern hängen. Aber was er im Internet zu sehen bekam, war etwas Neues: die kaltblütigen Bekundungen eines Dominanzdenkens, das so tief saß, dass es ungerührt forderte, alles »nicht-weiße Ungeziefer auszumerzen wie die Ratten«. Seine Frau verschonte Gerry mit den Einzelheiten seiner Lektüre. »Feiglinge«, sagte er nur. »Das Problem mit dem Internet ist, dass man anonym bleibt.« Gerry nahm jetzt jeden Abend eine Schlaftablette. Die Verantwortung lag bei ihm. Die Sicherheit der Bürger war seine Zuständigkeit, also musste er auch das Unvorhersehbare vorhersehen. Die State Trooper wurden ins Boot geholt, andere Polizeipräsidien um Amtshilfe gebeten, Plastikschilde und Schlagstöcke aus den Arsenalen befördert, Deeskalationsstrategien geübt.
    Und eines Morgens, als Susan gerade zur Arbeit aufbrach, kam Zachary Olson weinend zur Hintertür herein. »Mommy«, schluchzte er, »sie haben mich gefeuert! Ich kam rein, und sie haben zu mir gesagt, ich bin gefeuert, ich hab keinen Job mehr.« Und er beugte sich herunter und klammerte sich an seine Mutter, als sei ihm gerade das Todesurteil verlesen worden.
    »Sie müssen ihm keinen Grund nennen«, sagte Jim, als Susan ihn anrief. »Kein Arbeitgeber gibt einen Grund an, wenn er halbwegs bei Verstand ist. Aber Bob und ich sind ja bald da.«

9
    Mit dem November kam der Wind,

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