Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Leute reden«, sagte Jim gern. »Die meisten reden sich um Kopf und Kragen, man muss sie nur lassen.«) Jim schaute kurz hoch, grinste Dick an, klopfte ihm auf die Schulter, um dann wieder Zuhörhaltung einzunehmen. Mehrmals schienen beide Männer leise zu lachen. Neuerliches Schulterklopfen, dann wurde Dick Hartley angekündigt und erklomm die Treppe etwas ungelenken Schrittes, als wäre er immer rank und schlank durchs Leben gegangen und wüsste nicht recht, wie er die Körperfülle bewältigen sollte, die ihn nun, Mitte fünfzig, plötzlich belastete. Er las seine Rede ab, und weil er sich in einem fort die Haarsträhnen aus den Augen streichen musste, hatte man den Eindruck – ob zu Recht oder nicht – , dass er sich unwohl in seiner Haut fühlte.
Bob, der eigentlich zuhören wollte, schweifte mit den Gedanken ab. Margaret Estavers Gesicht erschien wieder vor ihm, und dann – seltsamerweise – das von Adriana, ihr erschöpfter, wirrer Blick an dem Morgen, nachdem sie ihren Mann von der Polizei hatte abführen lassen. Aber jetzt im Moment, in diesem Park seiner Kindheit, war es fast undenkbar, dass sein New Yorker Leben real sein sollte, dass es das Pärchen gegenüber in der weißen Küche oder die junge Frau, die sich so ungezwungen in ihrer Wohnung bewegte, wirklich gab oder dass er selbst so viele Abende am Fenster gesessen und hinausgeschaut hatte. Ein trauriges Dasein, so schien es ihm jetzt, aber er wusste, zu Hause an seinem Fenster in Brooklyn fühlte es sich nicht traurig an, da war es sein Leben. Im Augenblick dagegen gab es nichts Realeres als diesen Park mit all den blassen Menschen, die ihm so vertraut vorkamen, die so uneitel waren und so behäbig; Margaret Estaver, ihre Art… Und flüchtig dachte er, wie es sich für die Somali anfühlen mochte, ständig in einer Verwirrung leben zu müssen, wie er sie momentan erlebte, nie zu wissen, welches Leben das reale war.
»Jimmy Burgess«, hörte Bob eine Frau mit unterdrückter Stimme sagen. Sie war klein, weißhaarig, mit Fleeceweste, und neben ihr stand ein Mann, der wohl ihr Ehemann war, auch er klein, mit einem großen Bauch, und auch er trug eine Fleeceweste. »Nett von ihm, dafür raufzukommen«, fuhr die Frau fort, noch immer das Podium im Blick, während sie den Kopf schon ihrem Mann zuwandte. »Hat es wohl für seine Pflicht gehalten«, fügte sie hinzu, als sei ihr das eben erst eingefallen, und Bob ging ein Stück weiter.
Er wünschte sich dringend eine Zigarette, als er Jim die Stufen hinaufsteigen und Dick Hartley zunicken sah, der ihn vorstellen würde. Selbst auf diese Entfernung wirkte Jim ungeheuer natürlich. Bob wippte auf den Absätzen, die Hände in den Hosentaschen. Was war es, das Jimmy so besonders machte? Dieses ungreifbar Bezwingende an Jimmy?
Dass er keine Angst zeigte, das war es. Nie Angst gezeigt hatte. Angst stieß die Leute ab. Solche Gedanken gingen Bob durch den Kopf, als sein Bruder zu sprechen begann. (»Guten Morgen.« Pause. »Ich stehe hier als ehemaliger Bürger dieser Stadt. Ich stehe hier als ein Mann, dem seine Familie am Herzen liegt und dem sein Land am Herzen liegt.« Pause. Leiser: »Als ein Mann, dem seine Heimatstadt am Herzen liegt.«) Hier im Roosevelt Park, benannt nach dem Mann, der dem Land versichert hatte, dass das einzig Fürchtenswerte die Furcht selber war, konnte Jimmy sich seiner Wirkung gewiss sein, dachte Bob, weil er aussah wie einer, um den die Angst einen großen Bogen macht. (»Als ich ein Kind war und in diesem Park gespielt habe – so wie die Kinder, die ich heute hier sehe – , bin ich manchmal auf den kleinen Berg da drüben gestiegen, um auf die Bahngleise hinunterzuschauen und den kleinen Bahnhof, auf dem vor hundert Jahren Hunderte Menschen in diese Stadt gekommen sind, um hier in Sicherheit arbeiten, leben und ihre Religion ausüben zu können. Diese Stadt blühte auf und gedieh mit der Hilfe all derer, die hierherkamen, all derer, die hier lebten.«)
So etwas ließ sich nicht vortäuschen. Es zeigte sich im Blick, in der Art, wie jemand einen Raum betrat, die Stufen zu einem Podium hinaufstieg. (»Wer gleichgültig danebensteht, wenn seine Mitmenschen, ob Männer, Frauen oder Kinder, Leid und Demütigung erfahren, verschlimmert das Leid und die Demütigung noch, das wissen wir alle. Wir alle wissen um die Verletzlichkeit der Menschen, die neu in unserer Gemeinschaft sind, und werden nicht tatenlos danebenstehen, wenn ihnen Unrecht geschieht.«) Bob, der seinem Bruder
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