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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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zuschaute und sah, dass jeder im Park – der inzwischen brechend voll war – an seinen Lippen hing, ohne zu zappeln oder herumzulaufen oder mit dem Nebenmann zu tuscheln, Bob, dem es vorkam, als wären alle diese Menschen in ein großes, warmes Tuch gehüllt, das sein Bruder immer enger zu sich herzog, ahnte nicht, dass das, was er empfand, Neid war. Er wusste nur, dass er dastand und sich miserabel fühlte, nachdem ihn doch Margaret Estavers Begeisterung eben noch so hoffnungsfroh gestimmt hatte, nachdem er sich gefreut hatte über das, was sie tat und was sie ausstrahlte. Jetzt kam wieder der Rückfall in die altbekannte Trostlosigkeit, in den Abscheu gegen sein eigenes täppisches, dödeliges, unbeherrschtes Ich – in allem das Gegenteil von Jim.
    Und doch. Das Herz ging ihm auf vor Liebe. Da stand er, sein großer Bruder! Ihm war, als schaute er einem großen Sportler zu, einem Mann, dem die Anmut bereits in die Wiege gelegt worden war und der zwei Zoll über der Erdoberfläche wandelte, und wer konnte schon sagen, warum? (»Wir sind heute in den Park gekommen, zu Tausenden in diesen Park gekommen, um laut und deutlich unsere Überzeugung kundzutun, dass die Vereinigten Staaten von Amerika ein Land der Gesetze sind, nicht der Willkür, und dass die, die bei uns Schutz suchen, ihn auch finden sollen.«)
    Bob vermisste seine Mutter. Seine Mutter in dem dicken roten Pullover, den sie so gern gemocht hatte. Er dachte daran, wie sie an seinem Bett saß, als er klein war, und ihm eine Gutenachtgeschichte erzählte. Sie hatte ihm ein Nachtlicht gekauft, was damals wie ein unerhörter Luxus schien: diese kugelrunde Birne, festgesogen an der Steckdose über der Fußleiste. »Schisser«, sagte Jim, und schon bald ließ Bob seine Mutter wissen, dass er das Licht nicht mehr nötig hatte. »Dann lass ich die Tür offen«, sagte seine Mutter. Schisser . »Falls einer von euch aus dem Bett fällt oder mich braucht.« Immer war Bob derjenige, der aus dem Bett fiel oder laut schreiend aus einem Alptraum erwachte. Jimmy hänselte Bob nur dann, wenn ihre Mutter nicht in der Nähe war, und obwohl Bob sich zu wehren versuchte, hatte er im Herzen die Verachtung seines Bruders doch akzeptiert. Und akzeptierte sie auch heute, hier im Roosevelt Park, während er dastand und Jims wohlgesetzten Worten lauschte. Er wusste, was er getan hatte. Die gutherzige Elaine in ihrem Büro mit dem zählebigen Feigenbaum hatte einmal ganz behutsam zu bedenken gegeben, dass es vielleicht keine besonders gute Idee gewesen sein könnte, drei kleine Kinder in einem Auto oben am Berg alleinzulassen, aber Bob hatte den Kopf geschüttelt, nein, nein, nein. Noch unerträglicher als der Unfall selbst war es, seinem Vater die Schuld daran zu geben! Er war ein kleines Kind gewesen. Das war ihm klar. Kein Tatvorsatz. Keine Fahrlässigkeit. Nicht einmal die Justiz suchte die Verantwortung bei einem Kind.
    Aber er hatte es getan.
    »Es tut mir so leid«, hatte er zu seiner Mutter gesagt, als sie in ihrem Krankenhausbett lag. Immer wieder hatte er es gesagt. Aber sie hatte nur den Kopf geschüttelt. »Ihr wart gute Kinder, alle drei.«
    Bob ließ den Blick über die Menge schweifen. Sogar die Polizisten, die um den Park herum postiert waren, schienen – bei aller Wachsamkeit – Jim zuzuhören. Drüben beim Spielplatz tanzten die somalischen Kinder, drehten sich mit hoch erhobenen Händen im Kreis. Auf all das fiel Sonnenlicht, und hinter dem Park ragten die vier Turmspitzen der Kathedrale auf, hinter der wiederum der Fluss lag, von hier aus ein schmales, gewundenes Band, glitzernd zwischen seinen Ufern.
    Der Applaus für seinen Bruder war anhaltend, gleichmäßig, erfasste den ganzen Park und hörte nicht auf, sondern schwoll nach kurzem Abflauen wieder an, ein weicher, voller Klang. Bob beobachtete, wie Jim vom Podium herunterstieg, nach allen Seiten grüßend und nickend, wie er Dick Hartley noch einmal die Hand gab, wie er dem Gouverneur, der nach ihm sprechen würde, die Hand schüttelte, und immer noch nahm der Applaus kein Ende. Aber Jim zog es weg. Bob sah es von seinem Platz aus: Jims höfliches Abwinken, während er seinen Weg fortsetzte. Immer auf dem Sprung, hatte Susan einmal über Jim gesagt.
    Bob schloss eilig zu ihm auf.
    Als sie mit schnellen Schritten die Straße hinuntergingen, näherte sich ihnen lächelnd ein junger Mann mit Baseballmütze. »Hey«, sagte Jim und nickte, ohne stehen zu bleiben.
    Der junge Mann fiel in Gleichschritt mit ihnen.

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