Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Dorothy voreingenommen und anstrengend fand, änderte nichts an dem Unbehagen, mit dem Helen sich auf dem Weg zum Lincoln Center klarmachte, dass Dorothy seit ihrer Reise nach St. Kitts kein einziges Mal angerufen hatte; die Anglins waren ihrer überdrüssig, eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Jim sagte, das stimme nicht, die Anglins machten gerade eine sehr schwere Zeit mit ihrer Tochter durch, die Familie war in Therapie, teuer und sinnlos laut Alan, und Dorothy heulte jede Sitzung durch.
Helen versuchte das im Kopf zu behalten, als sie Dorothy begrüßte, die es sich gerade in ihrem Sitz in der Loge bequem machte, auf die sie seit Jahren abonniert waren. Unten im Orchestergraben hob schon der angenehm disharmonische Lärm des Stimmens an ( Saiten, die gestrichen, Läufe, die geblasen wurden ) , während immer mehr Menschen den Saal füllten. Die üppigen Kronleuchter, die bald aufsteigen würden, der schwere Vorhang, würdevoll verknautscht, wo sein samtener Saum auf der Bühne aufsetzte, die Wandpaneele, die weit, weit hinaufreichten, um Klang aufzunehmen und Klang zurückzugeben – alles vertraute Dinge, an deren Pracht sich Helen jedes Mal erfreute. Aber heute Abend streifte sie der Gedanke, in einem mit Samt ausgeschlagenen Sarg eingeschlossen zu sein. Opern dauerten so schrecklich lang, und früher gehen konnten sie nicht, weil sie selbst es sich nicht gestattete; es hatte etwas Banausenhaftes, früher zu gehen.
Sie wandte sich wieder Dorothy zu, die ganz und gar nicht nach durchweinten Therapiesitzungen aussah. Ihre Augen waren glasklar und perfekt geschminkt, das dunkle Haar wie immer zu einem Dutt im Nacken gefasst. Sie neigte ganz leicht den Kopf, als Helen sagte: »Ich habe heute den Diamanten aus meinem Verlobungsring verloren, das macht mich ganz krank.« In der Pause erkundigte sich Dorothy, wie es Larry auf der Uni in Arizona erging, und Helen berichtete, er sei begeistert und habe schon eine Freundin, die Ariel hieß und nett zu sein schien, aber sie habe , wenn sie das Mädchen auch zugegebenermaßen noch nicht kannte , leise Zweifel, ob sie die Richtige für Larry war.
Dorothy verzog keine Miene – kein Lächeln, kein Kopfnicken – , während Helen ihr das erzählte, als wollte sie sagen: Soll er von mir aus ein Känguruh heiraten, wen interessiert das, mich nicht, und das – eben setzte die Musik wieder ein – schmerzte Helen, denn Freunde hatten Anteilnahme zu heucheln, so funktionierte die Gesellschaft. Aber Dorothy richtete den Blick wieder auf die Bühne, ohne eine Regung, und als Helen die Beine übereinanderschlug, spürte sie, dass ihre schwarze Strumpfhose, die sie vorhin hastig hochgezogen hatte, weil bereits der Gong rief, an den Schenkeln verdreht saß. Was hatten die Feministinnen schon groß erreicht, dachte sie, wenn man als Frau immer noch doppelt so lange vor der Toilette anstehen musste?
Sie hörte Jim zu Alan sagen: »Sie ist gut. Ganz hervorragend.«
»Die Julia?«, fragte Helen. »Du findest sie hervorragend? Kann ich nicht finden.«
»Die neue Sachbearbeiterin.«
»Oh«, sagte Helen nebenhin. »Ja, das sagtest du.«
Und dann hob sich der Vorhang wieder, und es ging weiter und immer weiter. Ach, es würde noch eine Ewigkeit dauern, bis Romeo und Julia endlich gestorben waren. Der Romeo war ein moppeliger Mann in himmelblauen Strumpfhosen; kaum vorstellbar, dass er das Interesse dieser Julia geweckt haben sollte, die mindestens fünfunddreißig war und sich das Herz aus dem vollbusigen Leib sang. In Gottes Namen, dachte Helen und ruckte schon wieder auf ihrem Sitz, stoß dir endlich den Requisitendolch in die Brust und stirb.
Als der Schlussapplaus spärlicher wurde, beugte sich Alan an Jim vorbei. »Helen, du bist schön wie immer heute Abend. Ich hab dich vermisst. Wir haben eine entsetzliche Zeit hinter uns, vielleicht hat Jim es dir erzählt.«
»Es tut mir so leid«, sagte Helen. »Ich habe dich auch vermisst.«
Als Alan seine Hand ausstreckte, um ihre zu drücken, stellte Helen erschrocken fest, dass ihre Dankbarkeit beinahe etwas Sinnliches hatte.
3
Die Verhandlung fand im neuen Anbau des Gerichts statt. Für Bob, der alte Gerichtssäle mit ihrer welken Pracht gewohnt war, hatte die lackglänzende Holzverschalung den Charme einer frisch renovierten Garage. Durch das Fenster sah man graue Wolken tief über dem Fluss hängen, und während die Leute den Raum betraten, legte eine unscheinbare junge Frau mit rechteckigen Brillengläsern schweigend
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