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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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einen Stapel Aktenordner auf den Tisch der Anklage, bevor sie zum Fenster ging und hinausschaute. Ein grüner Blazer verbarg das Oberteil ihres beigefarbenen Kleids, zu dem sie beige Kunstlederschuhe mit flachen Absätzen trug, und einen Moment lang empfand Bob – der sie von den Zeitungsfotos als die stellvertretende Generalstaatsanwältin Diane Dodge erkannte – fast etwas wie Rührung angesichts dieser zaghaften Flucht in schmucklose Eleganz. Niemand in New York würde sich so anziehen, nicht im Winter, wahrscheinlich nie, aber sie lebte nicht in New York. Mit verschlossener Miene wandte sie sich vom Fenster ab und ging zurück zu ihrem Tisch.
    Susan hatte für diesen Vormittag ein marineblaues Kleid angezogen, aber sie behielt den Mantel an. Zwei Journalisten waren zugelassen und zwei Fotografen, die mit ihren Kameras und wuchtigen Anoraks in der ersten Reihe saßen. Zach, in dem Anzug, den Susan ihm bei Sears gekauft hatte, das Haar frisch und sehr kurz geschnitten, das Gesicht bleich wie Teig, erhob sich – wie der ganze Saal – , als der rundschultrige Richter eintrat, auf seinem Richterstuhl Platz nahm und mit ernster Patriarchenstimme verlas, dass Zachary Olson Missachtung der im ersten Zusatz zur Verfassung garantierten Freiheit der Religionsausübung vorgeworfen wurde.
    Und so begann es.
    Diane Dodge stand auf, verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Mit überraschend mädchenhafter Stimme befragte sie die an besagtem Abend an den Tatort gerufenen Polizisten. Sie ging auf und ab; sie wirkte wie die Hauptdarstellerin einer Schulaufführung, die für ihre Rolle so viel Lob eingeheimst hatte, dass ihre zarte Gestalt ein von unerschütterlichem Selbstbewusstsein durchdrungenes Ego zu transportieren schien. Die Polizisten antworteten monoton, unbeeindruckt.
    Als Nächster sagte Abdikarim Ahmed aus. Er trug Cargohosen, ein blaues Oberhemd und Turnschuhe, und Bob fand, dass er weniger einen afrikanischen als vielmehr einen mediterranen Eindruck machte. Dennoch sah er sehr fremdländisch aus und sprach mit starkem Akzent, und sein Englisch war so mangelhaft, dass ein Dolmetscher benötigt wurde. Abdikarim Ahmed erzählte von dem Schweinekopf, der plötzlich durch die Tür geflogen kam, von einem kleinen Jungen, der in Ohnmacht fiel, und dem Teppich, der siebenmal gereinigt werden musste, wie es das islamische Gesetz verlangte, weil das Geld für einen neuen fehlte. Er redete fast emotionslos, bedächtig und müde. Aber er schaute Zach an, und er schaute Bob an und auch Charlie. Er hatte große, dunkle Augen, seine Zähne waren unregelmäßig und verfärbt.
    Mohamed Husseins Aussage deckte sich weitgehend mit seiner. Sein Englisch war besser, er redete energischer; er sei zur Tür der Moschee gelaufen, berichtete er, habe aber niemanden gesehen.
    Und haben Sie sich gefürchtet, Mr. Hussein? Diane Dodge legte eine Hand ans Schlüsselbein.
    »Sehr.«
    Haben Sie sich bedroht gefühlt?
    »Ja. Sehr. Wir fühlen uns immer noch nicht sicher. Das war ein sehr schlimmes Erlebnis. Sie wissen nicht, wie es ist.«
    Gegen Charlie Tibbetts’ Einspruch gestattete der Richter Mr. Hussein, von den Lagern in Dadaab zu erzählen, von den shifta , Banditen, die nachts kamen, um zu rauben, zu vergewaltigen, manchmal auch zu töten. Beim Anblick des Schweinekopfs in ihrer Moschee hatten sie sich sehr gefürchtet, so sehr wie damals in Kenia, so sehr, wie sie sich in Somalia gefürchtet hatten, wo man selbst bei der alltäglichen Arbeit damit rechnen musste, überfallen und getötet zu werden.
    Bob wollte das Gesicht in den Händen vergraben. Er wollte sagen: Das ist alles ganz furchtbar, aber seht euch den Jungen doch an. Er hat noch nie von Flüchtlingslagern gehört. Er ist als Kind bis aufs Blut drangsaliert worden, auf einem kleinen Spielplatz in Shirley Falls haben sie ihn verprügelt, weit und breit kein Bandit. Aber die Schläger waren für ihn wie Banditen – seht ihr denn nicht, was für ein armseliges Würstchen er ist?
    Aber die Somali waren auch arm dran, keine Frage. Besonders der erste Mann. Nach seiner Vernehmung war er mit gesenktem Kopf an seinen Platz zurückgekehrt, ohne um sich zu schauen, und Bob konnte seinem Profil die Erschöpfung ansehen. Von Margaret Estaver wusste er, dass viele dieser Männer gerne arbeiten wollten, aber zu traumatisiert dafür waren, und dass sie in einem Teil der Stadt untergebracht waren, in dem Drogenhändler und Süchtige wohnten, dass sie, hier in Shirley Falls, bedroht,

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