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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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ihr Lebensende würde Bob ihre Heimat sein – warum hatte sie das nicht gewusst? Diesmal schaute sie nicht zu ihrem aktuellen Ehemann hinüber, es spielte keine Rolle, ob sie ihn ansah oder nicht, in solchen Momenten fühlte sie sich ihm nicht viel näher als allen anderen Leuten hier im Raum, die beinahe irreal schienen und ihr im Grunde so gut wie nichts bedeuteten, real war jetzt nur dieser Sog, wie von einem Magneten: Zachary und Bob – und Jim und Helen, sie alle. Die Burgess-Brüder, die Burgess! Vor ihren Augen erschien das Bild des kleinen Zachary in Sturbridge Village, wie Jims Kinder ihn aufforderten, mit ihnen dies zu tun und das zu tun, und das arme kleine schwarzhaarige Kerlchen stand da, als wüsste es gar nicht, was das war, Spaß haben; angeblich hatte man ihn auf alles getestet, aber Pam hatte sich an dem Tag gefragt, ob er nicht vielleicht doch autistisch war – Pam, die bei dem Ausflug nach Sturbridge Village bereits wusste, dass sie Bob verlassen würde, aber er wusste es noch nicht und hielt ihre Hand, als sie mit den Kindern in die Snackbar gingen, und die Erinnerung daran stach ihr ins Herz. Sie wandte den Kopf. Vom Ende des Tisches herüber sagte der Mann, der sich so wegwerfend über die Terrorgefahr geäußert hatte: »Ich gebe meine Stimme keinem weiblichen Präsidentschaftskandidaten. Das Land ist noch nicht bereit dafür, und ich bin es auch nicht.«
    Und die Südstaatenlady, hochrot im Gesicht, sagte jäh und völlig unvermutet: »Sie dummes Arschloch!« Dazu knallte sie die Gabel auf ihren Teller, und eine märchenhafte Stille senkte sich herab auf den Raum.
    Im Taxi sagte Pam: »Ha, war das nicht der Hammer ?« Gleich am nächsten Morgen wollte sie ihre Freundin Janice anrufen. »Meinst du, ihr Mann hat sich geniert? Soll er, es war genial!« Sie klatschte in die Hände und fügte hinzu: »Bob ist dieses Jahr nicht zu unserer Weihnachtsparty gekommen, ich frag mich, wieso.« Aber das Gefühl der Wehmut war verflogen, die Last der Traurigkeit, die sie an der Tafel überfallen hatte, die Sehnsucht nach allen drei Burgess-Kindern, dieses Gefühl einer verlorenen, durch nichts zu ersetzenden Vertrautheit – all das war vergangen, wie ein Magenkrampf vergeht, und die Abwesenheit des Schmerzes fühlte sich wunderbar an. Pam sah zum Fenster hinaus und griff nach der Hand ihres Mannes.
    Midtown Manhattan war überlaufen während der Mittagszeit, auf allen Gehsteigen drängten sich die Fußgänger, suchten sich auf verstopften Übergängen einen Weg zwischen den Autos hindurch, viele unterwegs ins Restaurant, vielleicht zu einem Geschäftsessen. Heute war die Hektik noch etwas größer, weil gerade an diesem Morgen die größte Bank der Welt erstmals Hypotheken im Wert von über zehn Milliarden Dollar hatte abschreiben müssen, und noch wusste niemand, was das zu bedeuten hatte. Natürlich waren Meinungen im Umlauf, und Blogger schrieben, am Jahresende würden die Menschen in ihren Autos wohnen.
    Dorothy Anglin befürchtete nicht, in ihrem Auto wohnen zu müssen. Sie hatte so viel Geld, dass sie getrost zwei Drittel davon verlieren konnte, ohne das Geringste an ihrem Lebensstil ändern zu müssen, und während sie mit einer Freundin, der sie bei einer Benefizveranstaltung für die Kunst-in-der-Schule-Initiative über den Weg gelaufen war, im angesagtesten Café in der Fifty-seventh Street nahe der Sixth Avenue saß, waren ihre Gedanken, wie immer in diesen Tagen, bei ihrer Tochter und nicht bei dem Programm, über das sie gerade diskutierten, und auch nicht bei dem Finanzdesaster, das womöglich auf das Land zukam. Sie nickte vage, um den Eindruck von Aufmerksamkeit zu vermitteln, als ihr Blick auf Jim Burgess fiel, der zusammen mit der neuen Kanzleiassistentin an einem der Tische saß. Zu ihrer Freundin sagte sie nichts, aber sie behielt die beiden im Auge. Dorothy erkannte die junge Frau; sie hatte sich bei einem Besuch in der Kanzlei einmal kurz mit ihr unterhalten. Ein schüchternes Mädchen, so Dorothys Eindruck damals, mit langen Haaren und schmaler Taille. Sie saßen an einem Tisch im hinteren Teil des Raums, und Dorothy glaubte nicht, dass einer von beiden sie gesehen hatte. Dorothy beobachtete, wie die junge Frau sich eine große Stoffserviette vor den Mund drückte, wie um ein Lächeln zu verstecken. Neben dem Tisch stand eine Flasche Wein im Kühler.
    Jim beugte sich vor, lehnte sich wieder zurück, verschränkte die Arme, legte den Kopf schräg, als wartete er auf eine Antwort.

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