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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Strout
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amerikanischen Waffen schwingend, zur Tür herein und über die zersplitterten Regale und Tische gestürmt waren. Aus irgendeinem Grund – ohne Grund – war einer stehen geblieben und hatte mit dem Lauf seiner Waffe immer wieder auf Baashi eingeschlagen, als Abdikarim schon zu ihm hinüberkroch. In seinem Traum erreichte er ihn nie.
    Wenn er dann schrie, kam Haweeya über den Flur gelaufen und murmelte beruhigend auf Abdikarim ein, kochte ihm einen Becher Tee. »Es muss dir nicht leidtun, Onkel«, sagte sie, wenn Abdikarim sich bei ihr entschuldigte, weil seine Schreie sie aus dem Schlaf rissen.
    »Dieser Junge«, sagte er in einer dieser Nächte zu ihr. »Zachary Olson. Er schneidet mir durchs Herz.«
    Haweeya nickte. »Aber er bekommt seine Strafe. Der Bundesanwalt bereitet seine Bestrafung vor. Pastorin Estaver hat es mir gesagt.«
    Abdikarim schüttelte in seinem abgedunkelten Zimmer den Kopf, Schweiß rann ihm vom Gesicht den Hals herunter. »Nein, er schneidet mir durchs Herz. Du hast ihn nicht gesehen. Er ist nicht so, wie wir ihn aus der Zeitung kennen. Er ist ein verängstigtes … «, den Satz leise beendend: »Kind.«
    »Wo wir jetzt leben, gibt es Gesetze«, sagte Haweeya mit besänftigender Stimme. »Und er hat Angst, weil er das Gesetz gebrochen hat.«
    Abdikarim schüttelte noch immer den Kopf. »Niemand hat das Recht«, flüsterte er, »ob mit Gesetz oder ohne, niemand hat das Recht, aus Angst noch mehr Angst zu machen.«
    »Und deshalb wird er bestraft«, wiederholte sie geduldig. Er nahm den Becher, trank nur einen kleinen Schluck, dann schickte er sie zurück ins Bett. Er schlief nicht wieder ein, verschwitzt lag er auf seiner Matratze, und die Sehnsucht in seinem Herzen hatte wie immer nur das eine Ziel, an den Ort zurückzukehren, an dem sein Sohn gefallen war. Der allerschlimmste Augenblick seines Lebens, und es war seine tiefste Sehnsucht, zu diesem Augenblick zurückzukehren, dieses nasse Haar zu berühren, diese Arme festzuhalten – keinen Menschen hatte er je so geliebt, und trotz allem Entsetzen, oder vielleicht gerade deswegen, war das Gefühl, seinen zerschundenen Sohn in den Armen zu halten, so rein gewesen, wie das Blau des Himmels rein war. Sich auf dem Flecken niederzulegen, auf dem sein Sohn zuletzt gelegen hatte, sein Gesicht in den Schmutz oder Schutt zu drücken, der sich in den Jahren seither wohl hundertmal neu angehäuft hatte, war, so schien es in diesen Momenten, sein einziger Wunsch. Baashi, mein Sohn.
    Im Dunkeln lag er auf dem Bett und dachte an die DVD , die er sich kurz nach seiner Ankunft in Shirley Falls in der Bücherei ausgeliehen hatte. Augenblicke amerikanischer Geschichte , aber der einzige Augenblick, den Abdikarim sich angeschaut hatte, wochenlang, immer wieder, war die Ermordung des Präsidenten: die Ehefrau in ihrem rosa Kostüm, die über die Rückenlehne des Autos zu klettern versuchte, um das Stück von ihrem Mann, das sie hatte wegfliegen sehen, wieder einzufangen. Abdikarim glaubte nicht, was man sich von der berühmten Witwe erzählte, dass ihr nur Geld und Kleider wichtig waren. Es war gefilmt worden, und er hatte es gesehen. Sie hatte in ihrem Leben dasselbe gefühlt wie er in seinem. Und auch wenn sie gestorben war (in dem Alter, in dem Abdikarim jetzt war), dachte er an sie wie an seine heimliche Freundin.
    Am nächsten Morgen ging er nach dem Gebet in der Moschee nicht in seinen Laden in der Gratham Street. Abdikarim ging die Pine Street hinauf zur unitarischen Kirche, um mit Margaret Estaver zu sprechen.
    Ein Monat verging. Inzwischen war Ende Februar, und auch wenn der Boden in Shirley Falls noch schneebedeckt war, stand die Sonne schon höher am Himmel, und an manchen Tagen brachte ihr gelbes Licht, das die Hausmauern wärmte, für ein paar Stunden auch den Schnee zum Schmelzen und Tropfen und Glitzern, und auf dem Parkplatz hinterm Einkaufszentrum liefen kleine Rinnsale über den Asphalt. Wenn Susan jetzt nach Feierabend den Laden verließ und die große geteerte Fläche überquerte, war die Luft noch hell vom offenen Licht des Frühlings. An einem dieser Nachmittage meldete sich ihr Mobiltelefon, als sie gerade ins Auto stieg. Susan benutzte ihr Handy noch nicht so selbstverständlich wie andere Leute; wenn es klingelte, war sie jedes Mal überrascht, und sie hatte das Gefühl, in etwas so Substanzloses wie ein Grahambrötchen hineinzusprechen. Hastig zog sie es aus der Tasche und hörte Charlie Tibbetts’ Stimme sagen, dass die

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