Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Ihre Serviette wanderte wieder zum Mund. Sie waren wie zwei Pfauen, die Räder schlugen. Oder zwei Straßenköter, die sich gegenseitig ihre Hinterteile beschnüffelten. (Helen, dachte Dorothy, ach, Helen, Helen, Helen. Arme dumme Helen. Aber sie dachte es ohne echte Anteilnahme, es waren nur Worte in ihrem Kopf.) Die beiden erhoben sich, um zu gehen, und Jim legte dem Mädchen leicht die Hand auf den Rücken, führte sie vom Tisch weg. Dorothy hielt sich die Speisekarte vors Gesicht, und als sie sie wieder sinken ließ, waren die beiden schon draußen auf dem Gehsteig, lachend und leichten Schrittes. Nein, sie hatten sie nicht gesehen.
Ein Klassiker: Er war alt genug, ihr Vater zu sein.
Das dachte Dorothy, während sie so tat, als würde sie ihrer Freundin zuhören. Die Tochter dieser Freundin hatte in der Highschool auch Probleme gehabt und studierte jetzt sehr erfolgreich in Amherst, und das sollte Dorothy Hoffnung für ihre eigene Tochter machen. Aber Dorothys Gedanken waren noch nicht fertig mit dem, was sie gerade beobachtet hatte. Sie könnte ja, überlegte sie, Helen anrufen und ganz nebenbei fallen lassen: Ach, übrigens, ich habe Jim mit seiner neuen Assistentin gesehen, ist es nicht wunderbar, dass die beiden sich so gut verstehen? Nein, das würde sie nicht.
»Da ist nichts dabei«, sagte Alan, als er und Dorothy sich fürs Zubettgehen fertig machten. »Sie hat ihm bei einem Fall zugearbeitet und ihre Sache sehr gut gemacht. Ich glaube nicht, dass Adriana viel Geld hat. An den meisten Tagen isst sie ihr Mittagessen am Schreibtisch aus einer Tupperdose. Da wollte Jim sie zum Dank eben mal nett ausführen.«
»Sie haben im teuersten Lokal auf der Fifty-seventh Street eine Flasche Wein getrunken. Jim trinkt nicht mal in den Ferien.« Und Dorothy fügte hinzu: »Hoffentlich hat er es nicht als Spesen abgerechnet.«
Alan klaubte seine schmutzigen Socken vom Boden auf. Auf dem Weg zum Wäschekorb sagte er: »Jim macht eine ziemlich schwere Zeit durch, seit sein Neffe sich da oben diesen Ärger eingebrockt hat. Die Sache geht ihm richtig an die Nieren, man sieht es ihm an.«
»Wie siehst du ihm das an?«
»Liebling, ich kenne Jim seit vielen Jahren. Wenn er entspannt oder in Kämpferlaune ist, redet er. Er macht den Mund auf, und es kommen Worte heraus. Aber wenn er Sorgen hat, schweigt er. Und er schweigt jetzt schon seit Monaten.«
»Na, heute Mittag war er jedenfalls alles andere als schweigsam«, sagte Dorothy.
5
Abdikarim versuchte wach zu bleiben, weil in der Nacht die Träume kamen, die ihn auf sein Bett niederdrückten, als lasteten Felsbrocken auf ihm. Er hatte jetzt jede Nacht denselben Traum, in dem sein Sohn Baashi ihn hilfesuchend ansah, während der Lastwagen näher kam, langsam, dann immer schneller, ehe er mit kreischenden Reifen vor seinem Laden in Mogadischu hielt. Auf der Ladefläche saßen Jungen, ein paar von ihnen noch nicht einmal so alt wie sein Sohn, Abdikarim sah die schnellen, jugendlichen Bewegungen von Beinen und dünnen Armen, wenn sie vom Lastwagen sprangen, die schweren Schusswaffen, die sie an Riemen über der Schulter und in den Händen trugen. Das (im Traum) geräuschlose Zertrümmern des Tresens, der Regale, ein abruptes entsetzliches Chaos, tobende Höllenfluten, die sich über ihnen auftürmten. Das Böse war zu ihnen gekommen, wie hatte er glauben können, es würde sie verschonen?
Abdikarim hatte viele Nächte gehabt, die Nächte von fünfzehn Jahren, um darüber nachzudenken, und immer kam er zum selben Ergebnis. Er war zu lange in Mogadischu geblieben. Er hätte aus den zwei Welten in seinem Kopf eine machen müssen. Siad Barre war aus der Stadt geflohen, und mit der Spaltung der Widerstandsgruppe schien auch durch Abdikarims Verstand ein Riss gegangen zu sein. Und wenn der Verstand zwei Welten bewohnt, sieht er nichts mehr. Die eine Welt seines Verstandes sagte: Abdikarim, in dieser Stadt herrscht die Gewalt, schick deine Frau und deine jungen Töchter fort – und das hatte er getan. Und die andere sagte: Ich bleibe hier und halte den Laden, zusammen mit meinem Sohn.
Sein Sohn, hochgewachsen, dunkeläugig, starrte seinen Vater an, Entsetzen im Blick, während die Straße, die Mauern hinter ihm wegkippten, Staub und Rauch, der Junge fallend, als würden ihm die Arme in die eine und die Beine in die andere Richtung gezogen. Schießen war schlimm genug, um einem ein Leben lang nachzugehen, aber nicht schlimm genug für die verrohten Kindmänner, die, ihre
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