Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
wissen, dass er noch am Leben ist«, sagte sie.
»Sehen wir noch mal richtig nach«, sagte Jim. »Kommt.« Die Brüder gingen mit Susan nach oben in Zacharys Zimmer. Helen blieb sitzen, noch im Mantel, es war kalt im Haus. Sie hörte sie über ihrem Kopf hin und her gehen, hörte das Murmeln ihrer Stimmen. Sie blieben lange oben, Schranktüren wurden geöffnet, Schubladen aufgezogen, wieder zugeschoben. Auf der Küchentheke lag eine Zeitschrift mit dem Titel Einfache Gerichte für einfache Leute , und Helen blätterte darin herum. Die Rezepte waren in launigem Ton geschrieben: Einfach ein Klacks Butter auf die Karotten, braunen Zucker drüber, und Ihre Kleinen merken gar nicht, dass sie etwas Gesundes essen. Sie seufzte und ließ die Zeitschrift sinken. Vor dem Fenster über der Spüle hingen Vorhänge in rostigem Orange, mit schmalen Rüschen am Saum und einer Rüschenborte über die gesamte obere Fensterbreite. Helen konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt solche Vorhänge gesehen hatte. Sie saß da, die Hände im Schoß, ohne ihren Verlobungsring, der beim Juwelier war. Sie trug nur den goldenen Ehering am Finger, ein seltsames Gefühl. Ihr fiel ein, dass sie den Arzttermin am Montag noch nicht abgesagt hatte, und überlegte, ob sie die Armbanduhr vielleicht ans rechte Handgelenk wechseln sollte, zur Erinnerung, dass sie morgen früh gleich als Erstes in der Praxis anrufen musste, aber sie blieb einfach nur da sitzen, bis die Brüder und Susan wieder die Treppe herunterkamen.
»Er scheint getürmt zu sein«, sagte Jim. Helen antwortete nicht. Was hätte sie dazu auch sagen sollen? Sie kamen überein, dass Bob heute bei Susan blieb und Helen und Jim im Hotel übernachteten.
»Hast du eigentlich Steve Bescheid gesagt?«, fragte Helen Susan im Aufstehen, und Susan sah sie an, als hätte sie jetzt erst bemerkt, dass Helen auch da war.
»Natürlich«, sagte sie.
»Und, was sagt er?«
»Er war nett. Sehr besorgt«, antwortete Jim.
»Na, immerhin. Hat er irgendwelche Vorschläge?« Helen zog ihre Handschuhe an.
»Was kann er von da drüben aus schon groß machen?«, antwortete Jim für seine Schwester. »Oben liegen ausgedruckte Mails von ihm. Zach soll Kurse belegen, sich für etwas interessieren, sich ein Hobby suchen, so etwas. Bist du so weit?«
Bob sagte: »Susie, stellst du bitte die Heizung hoch, solange ich da bin?«, und Susan versprach es ihm.
Als sie über die Brücke zum Hotel fuhren, fragte Helen: »Wo könnte er denn stecken?«
»Wenn wir das wüssten.«
»Aber ihr müsst doch einen Plan haben, Jimmy.«
»Abwarten.«
Helen dachte, wie unheimlich der tintenschwarze Fluss zu beiden Seiten aussah, wie schwarz die Nacht hier war. »Arme Susan.« Es war ehrlich gemeint, aber die Worte klangen irgendwie hohl, und Jim antwortete nicht.
Am Nachmittag darauf wurde in dem Hotel eine Hochzeit gefeiert. Der Himmel war blau, die Sonne schien. Der Schnee und der Fluss glitzerten, als hätte jemand aus vollen Händen Brillanten in die Luft geworfen. Auf der großen, dem Fluss zugewandten Terrasse des Hotels hatte sich die Hochzeitsgesellschaft für den Fotografen aufgestellt, die Leute lachten, als wäre es gar nicht kalt. Helen konnte sie sehen, aber nicht hören, denn sie stand ganz oben auf einem Balkon, und der Fluss übertönte alle Stimmen. Die Braut trug eine duftige weiße Jacke über dem weißen Kleid. Jung war sie nicht, stellte Helen fest. Ihre zweite Heirat, im Zweifel. Wenn ja, dann war es lächerlich, dass sie in Weiß heiratete, aber heutzutage machten die Leute, was sie wollten, und außerdem war das hier Maine. Der Bräutigam war pummelig und sah glücklich aus. Helen verspürte eine leise Regung der Eifersucht. Sie drehte sich um und ging zurück ins Zimmer.
»Ich fahre wieder rüber. Kommst du mit?« Jim saß auf dem Bett und kratzte sich die Füße. Er hatte den Fitnessraum benutzt und danach geduscht, und jetzt kratzte er sich wie wild die nackten Füße. Seit sie hier waren, so kam es Helen vor, kratzte er sich die Füße.
»Wenn ich das Gefühl hätte, dass es etwas nützt, würde ich natürlich mitkommen«, sagte Helen, die schon einen ganzen Vormittag im Haus ihrer Schwägerin ausgehalten hatte. »Aber mir ist nicht ganz klar, wozu meine Anwesenheit gut sein sollte.«
»Wie du meinst«, sagte Jim. Weiße Hautflocken übersäten den Teppich.
»Jimmy, hör auf. Du zerbröselst dir noch die ganzen Füße. Sieh dir das an.«
»Sie jucken.«
Helen setzte sich in den Sessel
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