Das Leben und das Schreiben
können Sie sich beim Lesen überzeugen, wenn Sie irgendwann daran zweifeln sollten). Wahrscheinlich ist das Übertreiben sogar leichter.
Eines meiner Lieblingsrestaurants in New York ist das Steakhaus Palm Too auf der Second Avenue. Wenn ich mich entschließe, eine Szene im Palm Too spielen zu lassen, weiß ich ganz genau, wovon ich schreibe, da ich einige Male dort gewesen bin. Bevor ich zu schreiben beginne, nehme ich mir einen Moment Zeit, um den Ort aus der Erinnerung heraufzubeschwören, damit ich ihn vor meinem geistigen Auge habe … Dieses Auge sieht schärfer, je öfter man es benutzt. Ich nenne es geistiges Auge, weil das der allgemein bekannte Begriff ist, aber eigentlich möchte ich alle meine Sinne öffnen. Diese Erforschung des Gedächtnisses soll kurz, aber intensiv sein, eine Art hypnotische Erinnerung. Und wie bei jeder Hypnose werden Sie merken, dass es einfacher wird, je öfter Sie es versuchen.
Die ersten vier Dinge, die mir einfallen, wenn ich an das Palm Too denke, sind: 1) wie dunkel die Bar und wie hell dagegen der Spiegel hinter der Bar ist, der das Licht von der Straße einfängt und reflektiert, 2) das Sägemehl auf dem Boden, 3) die lustigen Karikaturen an den Wänden, 4) der Geruch von gebratenem Steak und Fisch.
Wenn ich länger darüber nachdenke, fällt mir bestimmt noch mehr ein (was mir nicht einfällt, erfinde ich einfach – beim Visualisieren werden Wahrheit und Dichtung untrennbar verwoben), aber eigentlich brauche ich nicht mehr. Schließlich befinden wir uns hier nicht im Taj Mahal, und ich möchte Ihnen den Laden auch nicht verkaufen. Außerdem ist es wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass es sowieso nicht um den Schauplatz geht, sondern um die Story – es geht immer um die Story. Es ist nicht in meinem Interesse – und in Ihrem auch nicht -, sich im Dickicht der Beschreibung zu verlieren, nur weil sich das anbietet. Wir haben noch andere Eisen (oder Steak und Fisch) im Feuer.
Mit all diesem im Hinterkopf wenden wir uns jetzt dem kleinen Beispiel zu, in dem jemand das Palm Too betritt:
An einem hellen Sommertag um Viertel vor vier hielt das Taxi vor dem Palm Too. Billy bezahlte, stieg aus und sah sich schnell nach Martin um. Nichts zu sehen. Zufrieden betrat Billy das Lokal.
Nach der klaren Hitze auf der Second Avenue war das Palm Too dunkel wie eine Höhle. Der Spiegel hinter der Theke fing das grelle Licht von der Straße ein und flimmerte in der Dunkelheit wie eine Fata Morgana. Einen Moment lang konnte Billy nichts anderes erkennen, dann gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. An der Theke saßen ein paar einsame Trinker. Dahinter sprach der Oberkellner, die Krawatte gelockert und die Hemdsärmel hochgekrempelt, sodass seine behaarten Unterarme zu sehen waren, mit dem Barkeeper. Auf dem Fußboden lag noch immer Sägemehl, bemerkte Billy, so als befände er sich in einer Flüsterkneipe aus den Zwanzigern und nicht am Ende des Jahrtausends in einem Restaurant, in dem man weder rauchen noch Tabakklumpen auf den Boden spucken durfte. Und die Wände waren noch immer bis hoch zur Decke mit kunterbunt aufgehängten Karikaturen aus den Klatschspalten geschmückt: halbseidene Politiker aus der City, Journalisten, die sich längst zurückgezogen oder zu Tode getrunken hatten, und nicht richtig zu erkennende Berühmtheiten. Es duftete nach Steaks und gebratenen Zwiebeln. Alles so, wie es schon immer gewesen war.
Der Oberkellner trat vor. »Kann ich Ihnen helfen, Sir? Essen gibt es erst wieder ab sechs, aber die Bar …«
»Ich suche Richie Martin«, sagte Billy.
Billys Ankunft im Taxi ist Erzählung – oder Action, wenn Sie das Wort bevorzugen. Nachdem er das Restaurant betreten hat, folgt fast reine Beschreibung. Ich habe nahezu alle Einzelheiten unterbringen können, die mir zuerst einfielen, als ich meine Erinnerung an das echte Palm Too hervorkramte. Die reicherte ich noch mit ein paar Kleinigkeiten an – den Oberkellner beim Schichtwechsel finde ich ziemlich gut; mir gefällt die gelockerte Krawatte und die hochgerollten Ärmel mit den behaarten Unterarmen. Wie auf einem Foto. Nur den Geruch von Fisch habe ich unterschlagen. Der Zwiebelgeruch war stärker.
Mit einer kleinen erzählenden Handlung geht die eigentliche Geschichte weiter (der Oberkellner tritt vor auf die Bühne), dann kommt der Dialog. Inzwischen haben wir den Schauplatz deutlich vor Augen. Ich hätte noch unzählige Details hinzufügen können: die Enge des Raumes, Tony Bennett aus dem
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