Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben und das Schreiben

Das Leben und das Schreiben

Titel: Das Leben und das Schreiben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
) im Vordergrund. Ich versuche, Tabby zu beobachten, wenn sie zu einer bestimmten Stelle im Buch kommt, und hoffe zumindest auf ein kleines Lächeln oder – Hauptgewinn, Baby! – auf das große Lachen tief aus dem Bauch heraus, bei dem sie die Hände hebt und in der Luft herumwedelt.
    Es ist nicht immer einfach für sie. Ich gab ihr das Manuskript von Atlantis (Originaltitel: Hearts of Atlantis ), als wir in North Carolina waren, wo wir uns ein Damen-Basketballspiel der Cleveland Rockers gegen die Charlotte Stings ansahen. Am darauffolgenden Tag fuhren wir Richtung Norden nach Virginia, und auf der Fahrt las Tabby mein Buch. Es enthält ein paar lustige Stellen – dachte ich wenigstens -, deshalb warf ich immer wieder verstohlene Blicke zur ihr herüber, um zu sehen, ob sie schmunzelte (oder wenigstens lächelte). Ich dachte, sie würde es nicht merken, tat sie aber natürlich doch. Beim achten oder neunten verstohlenen Blick ( könnte auch der fünfzehnte gewesen sein), sah sie auf und schnauzte mich an: »Achte gefälligst auf die Straße, ja? Sonst landen wir noch im Graben. Sei doch nicht so verdammt versessen auf meine Reaktion!«
    Ich achtete auf die Straße und warf keinen Blick mehr zu ihr hinüber (nun … fast keinen). Ungefähr fünf Minuten später vernahm ich ein lachendes Schnauben zu meiner Rechten. Nur ein leises, aber es reichte mir. Die Wahrheit lautet, dass die meisten Schriftsteller versessen auf die Reaktion der Leser sind. Besonders zwischen der ersten und der zweiten Fassung, wenn die Tür zum Arbeitszimmer aufschwingt und das Licht der Welt hereinscheint.

12
     
    Mithilfe des idealen Lesers können Sie auch am besten bewerten, ob Ihre Geschichte das richtige Tempo hat und die Vorgeschichte zufriedenstellend geschildert ist.
    Das Tempo ist die Geschwindigkeit, mit der die Erzählung voranschreitet. Es herrscht in Verlegerkreisen eine Art stillschweigender Übereinkunft (daher unangefochten und nicht hinterfragt), dass die kommerziell erfolgreichsten Erzählungen und Romane ein hohes Tempo haben. Ich nehme an, dem liegt die Auffassung zugrunde, dass die Menschen heute so viel zu tun haben und sich so schnell vom gedruckten Wort ablenken lassen, dass sie weglaufen, solange man nicht so etwas wie ein Fast-Food-Koch ist, der in Rekordgeschwindigkeit Burger, Pommes und Spiegeleier brutzelt und serviert.
    Wie so viele nicht hinterfragte Überzeugungen in der Verlagsbranche ist auch dieses Märchen im Großen und Ganzen Bockmist … das ist auch der Grund, warum Verleger und Lektoren völlig verblüfft sind, wenn ein Buch wie Umberto Ecos Der Name der Rose (Originaltitel: Il nome della rosa ) oder Unterwegs nach Cold Mountain (Originaltitel: Cold Mountain ) von Charles Frazier aus der Meute ausbricht und die Bestsellerlisten erklimmt. Wahrscheinlich führen die meisten von ihnen den unerwarteten Erfolg solcher Romane auf eine unvorhersehbare, bedauerliche Geschmacksverirrung des Lesepublikums zurück.
    Nicht dass temporeiche Romane an sich schlecht sind. Einige gute Schriftsteller – Nelson DeMille, Wilbur Smith und Sue Grafton, um nur drei zu nennen – haben damit Millionen verdient. Aber man kann es mit dem Tempo auch übertreiben. Bei zu schnellem Voranschreiten riskieren Sie, den Leser verwirrt oder ermüdet auf der Strecke zu lassen. Ich persönlich mag es langsamer und breiter angelegt. Ein langer, fesselnder Roman wie Palast der Winde (Originaltitel: The Far Pavilions ) oder Eine gute Partie (Originaltitel: A Suitable Boy ), der mit der gemächlichen Geschwindigkeit eines Luxusliners vorangleitet, gehört seit den ersten Versuchen mit endlosen Briefromanen wie Clarissa von Samuel Richardson zu den großen Reizen des epischen Genres. Ich bin der Ansicht, dass sich jede Geschichte mit der ihr eigenen Geschwindigkeit entfalten muss, und das ist nicht immer im Eiltempo. Aber aufgepasst: Wenn man zu sehr verlangsamt, wird auch der geduldigste Leser irgendwann ungeduldig.
    Wie man am besten die Goldene Mitte findet? Mit dem idealen Leser natürlich. Versuchen Sie einzuschätzen, ob ihn oder sie eine bestimmte Szene langweilt. Wenn Sie den Geschmack Ihres idealen Lesers mindestens halb so gut kennen wie ich den Geschmack von meinem, sollte Ihnen das keine allzu großen Schwierigkeiten bereiten. Wird der I. L. an dieser oder jener Stelle überflüssiges Geschwätz monieren? Meint er, dass Sie eine bestimmte Situation nicht erschöpfend erklärt haben (oder zu ausführlich, eine meiner chronischen

Weitere Kostenlose Bücher