Das Leben und das Schreiben
das, was vor dem Einsetzen der Handlung passierte und Einfluss auf die eigentliche Geschichte hat. Die Vorgeschichte trägt dazu bei, den Charakter der Figuren zu definieren und deren Motivation zu etablieren. Ich finde, man sollte die Vorgeschichte so früh wie möglich einführen, aber unbedingt mit einer gewissen Eleganz. Sehen Sie sich folgende Zeile als Beispiel für eine nicht elegante Zusatzinformation an:
»Hallo, Exfrau«, sagte Tom zu Doris, als sie das Zimmer betrat.
Jetzt kann es für die Geschichte natürlich wichtig sein, dass Tom und Doris geschieden sind, aber es muss einfach eine bessere Lösung geben als die vorige, denn die ist so elegant wie ein Mord mit der Axt. Hier ein Vorschlag:
»Hallo, Doris«, sagte Tom. Seine Stimme klang einigermaßen natürlich, wenigstens in seinen Ohren, doch mit den Fingern der rechten Hand tastete er nach der Stelle, wo noch vor sechs Monaten der Ehering gewesen war.
Damit kann man immer noch keinen Pulitzer-Preis gewinnen und es ist deutlich länger als »Hallo, Exfrau«, aber es geht ja nicht immer um Schnelligkeit, wie ich schon versucht habe darzulegen. Und wenn Sie glauben, dass es nur um Informationsvermittlung geht, sollten Sie Prosa Prosa sein lassen und sich einen Job als Verfasser von Bedienungsanleitungen suchen – Dilbert’s Arbeitsplatz wartet schon.
Höchstwahrscheinlich haben Sie schon den Ausdruck in medias res gehört, was so viel heißt wie »mitten hinein«. Es ist eine uralte, ehrbare Technik, aber sie gefällt mir nicht. In medias res macht Rückblicke notwendig, und die kommen mir langweilig und irgendwie kitschig vor. Da muss ich immer an diese Filme aus den Vierzigern und Fünfzigern denken, in denen das Bild plötzlich ganz verschwommen wird, die Stimme Hall bekommt, und – schwupp! – werden wir sechzehn Monate zurückversetzt, und der schlammbespritzte Gefangene, der gerade noch den Bluthunden zu entkommen versuchte, weil ihm der Mord am korrupten Polizeichef angehängt wurde, ist ein aufstrebender junger Anwalt.
Als Leser habe ich größeres Interesse an dem, was passieren wird , als an dem, was bereits passiert ist . Sicher, es gibt hervorragende Romane, die dieser Vorliebe (vielleicht ist es auch ein Vorurteil) zuwiderlaufen – Rebecca (Originaltitel: Rebecca ) von Daphne DuMaurier ist so ein Beispiel, oder Die im Dunkeln sieht man doch (Originaltitel: A Dark-Adapted Eye ) von Barbara Vine -, aber ich für meinen Teil fange gern am Anfang an, gleichauf mit dem Verfasser. Bei mir muss es der Reihe nach gehen, von A bis Z; servieren Sie mir zuerst die Vorspeise, und geben Sie mir das Dessert nur dann, wenn ich mein Gemüse verputzt habe.
Selbst wenn Sie Ihre Geschichte der Reihe nach erzählen, werden Sie bald merken, dass zumindest ein kleines bisschen Vorgeschichte nicht zu vermeiden ist. Im übertragenen Sinn ist jedes Leben in medias res . Wenn Sie auf Seite eins Ihres Romans einen vierzigjährigen Mann als Hauptfigur vorstellen, müssen Sie trotzdem die ersten vierzig Jahre Ihres Helden irgendwo unterbringen, auch wenn die Handlung damit einsetzt, dass eine neue Figur oder eine neue Situation in das Leben des Helden platzt – ein Unfall zum Beispiel, oder er tut einer schönen Frau, die sich immer wieder verführerisch über die Schulter umschaut, einen Gefallen. (Haben Sie das grässliche Adverb in diesem Satz bemerkt? Ich konnte es einfach nicht über mich bringen, es zu »töten«) Inwieweit und wie gut Sie diese Jahre einbauen, wird sich entscheidend auf den Erfolg Ihres Buches auswirken, darauf, ob die Leser Ihren Roman »lesenswert« oder »stinklangweilig« finden. J. K. Rowling, Autorin der Harry-Potter-Bücher, ist momentan wohl die Spitzenreiterin, wenn es um Vorgeschichte geht. Es gibt Schlimmeres, als diese Bücher zu lesen und dabei darauf zu achten, wie beiläufig jedes neue Buch das bisher Geschehene rekapituliert. (Außerdem machen die Harry-Potter-Romane einfach Spaß , es geht von Anfang bis Ende nur um die Geschichte.)
Ihr idealer Leser kann eine große Hilfe bei der Bewertung sein, wie gut die Vorgeschichte eingearbeitet ist und wie viel in der nächsten Fassung hinzugefügt oder gestrichen werden sollte. Sie müssen sehr genau hinhören, was I. L. nicht verstanden hat, und sich dann fragen, ob Sie diese Dinge verstehen. Wenn Sie das tun und den Sachverhalt einfach nur nicht vermitteln konnten, müssen Sie diesen bei der zweiten Fassung verdeutlichen. Verstehen Sie ihn aber selbst nicht, sind Ihnen
Weitere Kostenlose Bücher